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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 3.1887-1888

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Die Nutzbarmachung unserer Museen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9418#0057

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56

Oie Nutzbarmachung unserer Museen

Zwickelfiguren um k. k. kunsthist. Hofmuseum in Wien, von Rndoff weyr ss. S. 4«)

Dresden — München

Wien — Berlin

Endlich will
Lichtwark die
Schätze des
Museums auch
durch Vorträge
nutzbar gemacht
wissen, welchem
einem beson-
deren Hörsaal
des Gebäudes
selbst, in An-
knüpfung an

die vorhandenen Kunstwerke
oder Reproduktionen, zu
halten wären. Dabei soll
nicht sowohl auf kunstgeschichtliches
Wissen, Kunstphilosophie oder Ästhetik,
als auf Kunstanschauung ausgegangeu
und die Kunst vergangener Zeiten heran-
gezogen werden, nicht etwa um von der
Kunst unserer Zeit abzulenken, sondern im
Gegenteil um auf letztere vorzuberciten.

Auch die Schulkinder der oberen
Klassen sollen durch ihre Lehrer in das Museum geführt werden, damit sie dort die wichtigsten Bilder in
allen Einzelheiten wie ein Gedicht auswendig lernen und hierdurch die Fähigkeit in sich ausbilden, Kunstwerke
anzuschauen. Der Weg durch die Kinder bietet nach Lichtwark die einzige Möglichkeit, in vielen Schichten den
Eltern noch beizukommcn. Anderseits wird die künftige Mutter oder Erzieherin, welche sehen gelernt hat, auch
ohne besondere Absicht ein Geschlecht von sehenden, anschaucnd genießenden Menschen heranbildeu.

Mit der Auseinandersetzung darüber, wie viel wir noch in Hinsicht auf unsere formale Ausbildung
nachzuholen haben, beschäftigt sich der zweite dieser Vorträge. Obwohl dieser Gegenstand mit dem hier bespro-
chenen nur teilweise im Zusammenhänge steht, können wir uns es nicht versagen. Einiges daraus mitzuteilen.

Der Schwerpunkt unserer deutschen Bildung, führt Lichtwark aus, liegt im Wissen. Dagegen bleibt
noch viel zu thun, bis wir uns an Gesittung, an festen Lebensformen, kurz an formaler Bildung, den übrigen
Nationen mit stätigerer Tradition an die Seite stellen können.

Besonders fühlbar macht sich dieser Mangel in der Stellung, die wir zu den bildenden Künsten
einnehmen.

Der Franzose, der Engländer, sie lernen richtig sehen, wie sie richtig sprechen lernen. Sie eignen sich '
bereits früh einen festen Maßstab für die Beurteilung der Dinge, für die Abschätzung ihres Wertes an.

Auf den deutschen Kunstausstellungen sieht man dagegen gar zu viele halbblinde, kleinliche Nörgler mit
ungeheueren Ansprüchen, vollkommen unfähig sich hinzugeben und immer zu allererst zur Kritik aufgelegt. Der
gebildete Deutsche, der sich in englischer und französischer Gesellschaft bewegt, fällt häufig durch seinen Mangel
an Anschauungsvermögen auf. Er ist sozusagen kunstblind. Er sieht nur, was ihm gezeigt wird, und wenn er
ein Kunstwerk erblickt, hat er zehn Einfälle, ehe er es einmal ordentlich angesehen hat, und fängt sofort an
zu kritisieren. Die Ausnahmen von dieser Regel sind nicht häufig, und eine Besserung in dieser Hinsicht bahnt
sich nur sehr allmählich an.

Solange aber im eigenen Lande der Käufer von selbständigem Geschmack so gut wie fehlt, steht die
Produktion in der Luft, und braucht man sich nicht zu verwundern, daß die Meinung entstehen konnte, nur
Künstler seien im stände Kunstwerke richtig zu beurteilen.

Besondere Umstände haben freilich zu dieser Gestaltung der Dinge beigetragen, namentlich die Geistes-
richtung, welche in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts herrschend war und auf wissenschaftlichem Gebiete
so Großes zu Tage gefördert hat. Damals wurde die Kunst in den Bann der Philosophie gezwungen und
bildete eigentlich nur einen Anhang an die litterarisch-philosophische Bewegung: wenigstens die sogenannte hohe
Kunst. Die heutige deutsche Kunstbildung ist noch wesentlich ein Produkt dieser Zeit. Das Kunstwerk soll in
erster Linie etwas zu denken, etwas zu erraten aufgeben. Nicht in der Erscheinung, sondern in den Gedanken
werden die Wurzeln der Kunst gesucht.
 
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