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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 3.1887-1888

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Norden, J.: Etwas von russischer Kunst und ihren Vertretern, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9418#0258

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Etwas von russischer Kunst und ihren Vertretern

,96

wenn auch keine so umfassende und glänzende, wie die Hauptschulen im westlichen Europa, die französische, die
deutsche, die belgische, die englische; so doch eine, die immerhin den Vergleich mit den übrigen Schulen nicht
zu scheuen braucht, selbst mit solchen, die schon auf eine Jahrhunderte lange Existenz zurückblicken können.
Eine Schule, reich an Talenten und befähigten Kunstjüngern, und an schönen Keimen gedeihlicher Entwickelung;
eine Schule, die gar auf einem relativ schon recht hohen Niveau steht, wenn man bedenkt, seit wie kurzer
Zeit überhaupt erst das russische Volk in die Reihe der Kulturvölker getreten ist.

Und so jung sie ist, so hat diese Schule auf jenen Ausstellungen mit Ehren bestanden; das beweisen
die Urteile ausländischer Kunstgenossen und der ernsten zünftigen Kritik, die Belohnungen, die die Jury jedes-
mal auch russischen Künstlern zuerkannte, das allgemeine Interesse, das ihre Arbeiten auch in der Gesellschaft
und auf den Kunstmärkten erregten. Freilich, wer nach dem, was auf diesen Ausstellungen zu sehen war,
allein sein Urteil über die moderne russische Kunst sich bilden wollte, der dürfte leicht in Jrrtümer verfallen.
Es ist das immer noch herzlich wenig gewesen und in den meisten Fällen trugen dabei die Kollektionen
den Stempel des Zufälligen. Das gilt namentlich auch von der Beteiligung russischer Künstler an der Berliner
Ausstellung, wo den „clou" ihres Salons das Werk eines Meisters bildete, der eigentlich gar nicht zu den
russischen Malern zu rechnen ist, und jedenfalls sich selbst keineswegs als solchen betrachtet, und wo zudem sehr
namhafte Künstler fehlten. Eine Ausstellung, wo Gemälde von solchen Kapazitäten fehlen, wie der Landschafter
Professor Orlowski und Wolkow, wie der Historien- und Genremaler Repin, in dem die junge russische Mal-
schule vielleicht am prägnantesten zum Ausdruck gelangt, wie der Porträtmaler Kramskoi, wie — wenn ich
nicht irre — auch der so früh verstorbene Ssudkowski, in dem Rußland einen seiner bedeutendsten Marine-
maler verlor, wie die beiden Sswedomski, die teilweise an Piloty, teilweise an Matejko, teilweise endlich an
Alma-Tadema gemahnenden Genre- und Historienmaler, wie noch manche andere — denn diese Liste ließe sich
noch lange fortsetzen — eine solche Ausstellung, meine ich, kann nie und nimmer darauf prätendieren, ein um-
fassendes und allseitiges Bild von dem heutigen Stand der russischen Malkunst zu bieten ....

Das zu thun, darf nun freilich auch dieser Aufsatz nicht beanspruchen. Der enge Rahmen, der ihm
gezogen ist, vermag die Überfülle an Stoff nicht zu fassen und man erwarte daher nicht eine erschöpfende
Darstellung der Kunstpflege und Kunstleistung in dem Rußland unserer Tage. Nur einige Streiflichter auf
dieselben zu werfen, hier und da einen Gesichtspunkt behufs richtiger Beurteilung der russischen Kunst zu fixieren,
auf den einen oder anderen besonders hervorragenden Vertreter derselben im Fluge aufmerksam zu machen —
das ist alles, was innerhalb dieses Rahmens geboten werden kann. Von einer Überfülle des Stoffes sprechen zu
wollen, gegenüber der erst betonten Jugendlichkeit der Kunst Rußlands — das erscheint vielleicht manchem als
eine Hyperbel, wenn nicht gar anmaßend. Indessen ists weder eine Hyperbel, noch anmaßend. Denn datiert
auch das Emporblühen der Künste und vornehmlich der Malkunst in Rußland erst seit den vierziger und
fünfziger Jahren, seit den Tagen einerseits Brüllows und Iwanows, andererseits Wenezianows und Feodotows,
so vollzog sich von da ab, in höchst eigentümlicher Weise und in der Kunstgeschichte überhaupt wol fast als
eine einzigartige Erscheinung dastehend, eine nationale Entwickelung der Kunst in einem erstaunlich raschen
Tempo; es ging geradezu mit Riesensprüngen vorwärts, als sollte nun mit einem Male das alles nachgeholt
werden, was Jahrhunderte hindurch versäumt worden war und brach gelegen hatte.

Eine Erklärung für diese Erscheinung finden wir nur darin, daß, einmal, Rußland bereits seit Mitte
des vorigen Jahrhunderts in der k. Akademie der Künste eine Zentralanstalt für die Pflege der Kunst besaß,
die durch ihre Thätigkeit den Boden urbar gemacht und zu plötzlichem Aufschießen der Dezennien hindurch weit
über die Mauern dieses Instituts hinaus gestreuten Saat vorbereitet hatte, und dann in dem gewaltigen Zuge
von Freiheit und Leben, der das geistige Dasein in dem Riesenreich in den sechziger Jahren mit sich fortriß,
es zu Selbständigkeit auf allen Gebieten weckend. Jene „Reform-Ära", wie man wohl die erste Hälfte der
Regierungszeit des Zarbefreiers bezeichnet, war es, die das Wunder einer so jähen, ungeahnten Entwicklung
der Kunst bewirkte; sie war die Sonne, die jenen Keimen eine so rasche Entwicklung ermöglichte.

Wohl kann man von einer Blüte der Kunst auch schon in den Tagen Kaiser Nikolaus' reden, der, ein
echter Mäcenas, mit seinem eigenen Geschmack die Richtung der Kunstthätigkeit hob, aber — gleichzeitig auch in
feste Bahnen lenkte, aus denen sie hinauszugehen nicht vermochte. Und eben darum wurde die selbständige
Entwicklung dieser Thätigkeit durch die von den Hofkreisen ausgehende, und in erster Linie, natürlich durch die
Akademie selbst zum Ausdruck gebrachte Bevormundung das freie künstlerische Schaffen gehemmt, ja gelähmt.
Die Kunstrichtung jener Jahre berücksichtigte nicht die Ideen und Gefühle, die die Gesellschaft bereits beseelte
und die in der Litteratur hier und da schon einen beredten Ausdruck zu finden begonnen, sondern man
begnügte sich in den meisten Fällen damit, wohl äußerlich schöne Werke zu schaffen, die aber ihrem Inhalt und
Wesen nach kalt und konventionell waren und den Stempel des „Offiziellen" und folglich Unfreien trugen.

Verfolgt man die Geschichte unserer Akademie der Künste, die ja keinem vorhandenen Bedürfnisse ent-
sprang, wie ähnliche Anstalten im westlichen Europa, sondern die vielmehr die Aufgabe hatte, ein solches Be-
dürfnis erst zu wecken, zu entwickeln, zu verbreiten, so überzeugt man sich bald davon, wie diese ihre Rolle
 
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