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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 5.1889-1890

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Perfall, Anton von: Dachstuben-Nachbarn, [1]: Novelette
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https://doi.org/10.11588/diglit.10738#0321

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Dachstuben-Nachbarn. Novelette. Von A. Frhr. v. perfall

2§s


Jagende Kmaronrn. von Albert Baur
sshotographieverlag v. Gust. Schauer in Berlin

Dach stuüeii - O achbarn
Novelette. Von A. -8rhr. v. persall

i^rau Berchtold saß in dem altvaterischen Lehnstnhl am
niedern Fenster mit dem staubigen Epheu, unter dem,
in seinem, von der wohligen Wärme leise bewegten Käsige
sanft entschlummerten Hansi, den dicken Bleistift unzählige
Male mit der Zunge benetzend. Sie rechnete sichtlich mit
Anstrengung aller ihrer Geisteskräfte in dem schmierigen,
abgenutzten Buche vor ihr, jede Zahl vor sich hinmurmelnd
und mit dem Stifte begleitend, dann machte sie einen
energischen Strich, las mit sichtlichem Schmunzeln um den
zahnlosen, eingefallenen Mund das Resultat, schob die
große Hornbrille auf die Stirn, und schlürfte behaglich
aus der großen Schale neben sich, deren duftigen, viel-
geliebten Inhalt sie über der Arbeit fast ganz vergessen
hatte. Der graue, wassertriefige Novembertag, dessen
frostige Nebel in der engen Windgasse draußen vom
Sturm gepeitscht auf- und abjagten, verdarb ihre Laune
nicht. Der graue Tag war der Zinstag, wo die Witwe
des vor Jahren schon gestorbenen Feldwebels Berchtold
sämtliche Mieten ihres kleinen Logierhauses in der Wiud-
gasse, das sie mit der kriegerischen Errungenschaft ihres
einstigen Gemahls gekauft, mit unnachsichtlicher Pünktlich-
keit einzog. Es waren nur kleine Beträge —, reiche
Leute zogen nicht in das alte Häuschen in der Windgasse,
aber es summierte sich doch zusammen, und es gab ja
auch außer den Mieten allerhand abzurechnen an diesem
Tage; der Frühkaffee, die spärliche Bedienung, hie und
da ein kleiner Vorschuß; sie war ein gutherziges Weib,

Nachdruck verbalen
die Berchtold und verlangte noch immer weniger als der
Jude. Der heutige Zinstag war ausnahmsweise günstig
abgelaufen, alle Parteien hatten Pünktlich bezahlt; sie ver-
gaß darüber ganz ihren Ärger über No. 7, das schon
seit einem Monate leerstand. Es ist unglaublich, was die
jungen Leute heutzutage beanspruchen, es waren heute
schon drei Bewerber bei ihr, und jedem war No. 7 zu
schlecht, dabei guckte ihnen doch die Helle Not aus den
Augen. — Sie klappte das Buch zu und schlürfte
schweren Trittes — Frau Berchtold war 20 Jahre
Feldwebelin — gegen den summenden, glühenden Herd,
wo die Reste des Mittagsessen ihren Dunst verbrei-
teten. —
Da klopfte es höchst unbescheiden, ein Mieter war
es nicht. Sie wischte sich den Mund mit der blau-
gewürfelten Schürze. Ein junger Mann trat ein, obwohl
modern, fast stutzerhaft gekleidet, machte er doch, triefend
vor Nässe, vom Frost geschüttelt, auffallend bleichen An-
tlitzes, welches das nasse schwarze Haar umrahmte, den
unwillkürlichen Eindruck der Dürftigkeit.
Frau Berchtold schmunzelte, sie erkannte sofort in
ihm einen Bewerber um No. 7.
„Mit was kann ich dienen, junger Herr?"
„Ich las Ihre Anzeige draußen am Hause — zeigen
Sie mir das Zimmer."
Die Antwort klang so barsch, der junge Mann sah
sie so von oben herunter an, daß Frau Berchtold ihre
 
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