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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 19.1903-1904

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Bie, Oscar: Ueber den Genuss alter Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.12082#0020

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LIEBER DEN GENUSS ALTER KUNST <ös^~

persönlichen Geschmacke aus auch alte Kunst sondern geistig. Ich war den Historikern dank-
ansehen, erweitern ihren Einfluß. bar. Sie sagten mir, wie es mit der Kunst

Man kann sich über diese Dinge ganz im sechsten, und im fünften, und im vierten
ruhig klar werden. Gibt es eine Wahrheit Jahrhundert stand. Dankbar für dies Ma-
in der Geschichte und einen Mechanismus terial. Denn jetzt konnte ich auf sicherem
der Kunst? Wir wissen, daß keiner von
uns den Spiegel alter Zeit betrachten
kann, ohne sich selbst darin zu sehen,
und daß alle Freude über mechanische
Rechenexempel in sich zusammenfällt,
wenn die tägliche Erfahrung beweist, daß
die Philologen oft gründlich korrigiert
werden müssen. Denken wir, was von
der Morellischen Schule, die die Philo-
logie in der Kunstgeschichte darstellt,
übrig geblieben ist. Die Hälfte seiner
Behauptungen und Vergleiche wankt,
und für die andere Hälfte fürchten wir.
Wir grinsen, wenn aus der Gleichheit
zweier Hände auf zwei Bildern derselbe
Meister gefolgert wird. Wir denken an
die hundert Schnippchen, die der ge-
lehrten Kunstgeschichte aus alten Ate-
liers geschlagen werden. Goya nas-
führte die Forscher des Impressionis-
mus, Fragonard die der Hellmalerei und
Menzel die des Japonismus. Und mit
Menzels Eisenwalzwerk entstanden
gleichzeitig Trübners Landschaften und
Bendemanns Juden. Durch solche Vor-
kommnisse werden wir der alten Ge-
schichte gegenüber ängstlich, ohne sie
doch ganz lassen zu können. Wir möch-
ten die Gelehrten arbeiten sehen, aber
nur auf ganz sicheren Feldern, und dann
möchten wir ihnen die Früchte weg-
nehmen, um uns unsern Tisch zu decken.
Die Gelehrten sind unsere Vorarbeiter
geworden, unsere Gärtner. Wenn wir
die beschauliche Mühe ihres Fleißes
noch so sehr schätzen, sie ernten doch
nicht, sie verlassen das Feld vor dem
Herbst und wir stehen dann auf ihrem
Werke und lassen die bunten Ketten
unserer Phantasie fliegen.

Ich weiß noch, als ich die erste
wirkliche Antike sah. Ich mußte sie
berühren, ich strich mit dem Finger
wieder und wieder darüber und sagte: franz stuck die Sünde

dies hat also ein Grieche auch an- Das Original in der Kgl. Neuen Pinakothek zu München

gefühlt. Das War eine Empfindung, Pholographieverlag von Franz Hanfstaengl, München

stärker als die ganze Kunstgeschichte,

die ich zum Examen lernte. Es war eine Boden das historische Gefühl spielen lassen,
persönliche Aussprache. In dieser Sekunde Entwicklungen in Erlebnisse umsetzen, Sil-
wurden zehn goldene Brücken geschlagen. houetten zu Menschen machen, verschollene
Und nie habe ich später zu einer Antike Werke im Geiste wieder aufbauen, die Ver-
ein Verhältnis gewinnen können, ohne sie Wandlungen von Motiven zu kleinen geistigen
so zu berühren, jetzt nicht mehr körperlich, Dramen zuspitzen, ja ich konnte mit der

I>ie Kunst für Alle XIX

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