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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 19.1903-1904

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Jessen, Jarno: Moderne Präraffaeliten
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https://doi.org/10.11588/diglit.12082#0096

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ANNIE BELL MUSIK UND TANZ

MODERNE PRÄRAFFAELITEN

Von Jarno Jessen

Ein wahres Chamäleon erscheint uns der
Begriff Präraffaelismus in den Erklärungen
der heutigen Gebildeten. Primitive Kunst,
dekorative Kunst, romantische Kunst, Ueber-
ästhentum hören wir ihn charakterisiert. Er
wechselt seine Farben ganz nach der ver-
schiedenen Beleuchtung durch naturalistische
oder idealistische Instinkte. Historisch fixiert
bedeutet er zweifellos die Romantik innerhalb
der Entwicklung der englischen Kunst. Wir
sehen eine Künstlergruppe mit starkem Ge-
fühlsleben mittelalterliche Stoffkreise auf-
suchen, weil sie in der Atmosphäre der Mystik
und Ekstase begehrte Nahrung finden. Wir
sehen ihre seelische Fülle in der intensiven
Mienensprache ihrer Geschöpfe und in pa-
thetischer Linienführung zum Ausdruck ge-
bracht. Die Gründer der Bewegung tauften
sich auf eine Zeitphase, die Einfachheit, De-
mut und Realismus in religiöser Malerei ver-
schmolz. „Aber es braucht nicht befürchtet zu
werden, daß dieser Erziehungskursus zu dem
Zehen trippeln der frühesten italienischen Kunst
führen könnte," erklärte Dante Gabriel Rossetti
in dem Programmblatt „The Germ". Nicht
Angelico und Lippi wollte man wiedergebären,
man wollte einen moralischen und intellek-
tuellen Protest gegen Banalitäten und aka-
demischen Zwang. Man wollte die große
Kunst.

So unmöglich es ist, die vor einem halben
Jahrhundert entstandenen Werke der Madox

Brown, Rossetti, Millais, Hunt und Burne-
Jones in diesem Sinne zu unterschätzen, so
wenig erscheint ihre Ueberschätzung als Meister
der Ausführung berechtigt. Niemals ist in
der englischen Kunst der Finish der Arbeit
vernachlässigt worden, trotz des phänomenalen
Intervalls des Turner-Impressionismus, der
auch zugleich ein Turner - Detaillismus ge-
wesen ist. Bereits in ihren ersten Kinder-
jahren folgte sie den Spuren Holbeins, Moros
und Orleys, und während ihrer Weiter-
entwicklung überwiegend niederländischen
Vorbildern. Schon Hogarth, der Erstgeborene
und zugleich das stärkste Temperament des
gesamten englischen Künstlertums, konnte
einen elfenbeinernen Fisch auf dem Karten-
tisch seiner Braut nicht ansehen, ohne ihm
sofort Schuppen und Flossen zu vervollstän-
digen. Aber als Bereicherer des Kunst-
inhalts bedeuten die Präraffaeliten eine
Großmacht, und indem sie den Kult der Tre-
und Quattrocentisten einsetzten, haben sie
auch formale Anregungen gegeben. Des Kenn-
wortes Präraffaeliten ist niemand schneller
müde geworden, als die Väter dieser Kunst-
bewegung. Schon im Jahre 1851, drei Jahre
nach der Gründung der Brüderschaft, wirft
Millais die Frage auf, ob der Name über-
haupt beibehalten werden solle. Rossetti
fertigt eine Dame, die sich erkundigt, ob er
der Präraffaelit Rossetti sei, ungeduldig mit
dem Bescheid ab: „Madame, ich bin absolut

Die Kunst für Alle XIX. 4. 15. November 1903.

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