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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 20.1904-1905

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Lange, Konrad von: Eine sensualistische Kunstlehre
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Von Ausstellungen und Sammlungen - Denkmäler - Vermischtes
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https://doi.org/10.11588/diglit.12355#0058

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EINE SENSUALISTISCHE KUNSTLEHRE <^*-

So soll der Genuß bei
der Schauspielkunst nur
in der Bewunderung des
Künstlers, d. h. in der An-
erkennung der schau-
spielerischen Geschick-
lichkeit bestehen. Diese
Kunst soll der reinste
Typus des l'art pour l'art,
also eigentlich Kaviar
fürs Volk sein; während
in Wirklichkeit doch das
Gegenteil der Fall ist. In
der Literaturgeschichte
könne man Perioden,
wo alles nur auf die
Geschicklichkeit des
Dichters ankomme, und
solche, wo die Wirkung in
einer sympathischen Ge-
fühlserregung bestehe,
deutlich voneinander
unterscheiden. Zu den
ersteren gehöre der Klas-
sizismus und der Natura-
lismus, zu den letzteren
die Romantik. Wenn die
eine Richtung eine Zeit-
lang geblüht habe, trete
eine Reaktion im Sinne
der anderen ein u. s. w.

Man sieht, wie hier

den Verhältnissen Ge- oskar zwintscher des kunstlers Gattin

Walt angetan Wird, und Große KunstaussteUang Dresden 1904

zwar nur um der Marotte
willen, für den Kunst-
genuß kein einheitliches Prinzip, sondern eine das Tote zu beleben, das Anorganische ins Reich
Vielheit ganz heterogener und logisch gar nicht des Organischen überzuführen? Und was ist die
parallelstehender Gefühle verantwortlich zu machen. Vorstellung des Inhalts anders als die möglichst an-
Die Tatsache, daß beim Kunstgenuß verschiedene schauliche Reproduktion der Affekte, um die es sich
Dinge zusammenwirken, daß die Abwechslung hier, wo nur ein Scheinbild vorliegt, einzig und allein
dabei eine große Rolle spielt, daß die Bewun- handeln kann? Das dritte Wirkungsmoment Langes
derung des Künstlers mitspricht, und endlich daß aber, die Abwechslung, ist bei der Illusion schon in
es bei vielen Künsten auch auf eine Gefühls- der Form der Anschauung selbst enthalten, indem
erregung ankommt, steht freilich außer Zweifel. die beiden Vorstellungsreihen sich nach einem be-
Aber handelt es sich denn da wirklich immer um kannten psychologischen Gesetz nicht gleichzeitig
ein Entweder — Oder und nicht vielmehr um ein in voller Stärke im Bewußtsein befinden können,
Mehr oder Weniger? Sollte nicht das Wesen des sondern, ohne daß eine davon ganz daraus ver-
Kunstgenusses gerade darin bestehen, daß alle diese schwindet, doch nach der Intensität fortwährend mit-
Dinge gemeinsam in Wirkung treten, und sollte es einander wechseln müssen — wozu natürlich noch
nicht möglich sein, ein Prinzip ausfindig zu machen, andere Formen des Wechsels kommen können. Auch
wonach gerade das Zusammenwirken aller dieser die Spannung und die Ekstase finden hier ihre
Dinge, ihre gegenseitige Einwirkung aufeinander, Rechnung, denn Spannung ist natürlich nur bei
die Bedingung des Kunstgenusses wäre? einer sehr starken Illusion möglich, und Ekstase
Ein solches Prinzip gibt es, und zwar ist es das ist nichts anderes als jener Zustand der partiellen
der künstlerischen Illusion. Wenn diese wirklich, Selbstvergessenheit, in den wir durch eine illusions-
wie ich nachgewiesen habe, eine bewußte Selbst- kräftige Kunst versetzt werden.
täuschung ist, so besteht ihr charakteristisches Kenn- Nur ein Prinzip, das allen diesen Elementen
zeichen darin, daß das Kunstwerk gleichzeitig als gleichzeitig gerecht wird, sie gewissermaßen alle
Kunstwerk, als Werk von Menschenhand, und als umfaßt, kann die mannigfaltigen Erscheinungen des
Natur, Gefühl, Kraft, Bewegung u. s. w. aufgefaßt Kunstgenusses und der Kunstentwicklung in be-
wird. Und wenn sich beim Kunstgenuß wirklich, friedigender Weise erklären. Ich habe schon in
wie ich nachgewiesen habe, zwei Vorstellungsreihen meinem »Wesen der Kunst« ausgeführt, daß die
bilden, deren eine sich auf den Künstler und die verschiedenen psychischen Zustände, die bei der
künstlerische Mache, und deren andere sich auf den Illusion zusammenwirken, bei verschiedenen Indivi-
dargestellten Inhalt, d. h. also auch auf die dar- duen sehr verschieden stark zur Entwicklung kommen
gestellten Affekte bezieht, so sind doch in diesen können. Es läßt sich in der Tat kein größerer
beiden Vorstellungsreihen alle Wirkungsmittel ent- Gegensatz denken als zwischen dem Backfisch, der
halten, die Lange für den Kunstgenuß verantwortlich einen Romanschluß mit dem einzigen Interesse liest,
macht. Denn was ist die Vorstellung des Künstlers ob sich die beiden Helden auch wirklich skriegen«,
anders als eine Bewunderung seiner Meisterschaft, und dem gewiegten Literarhistoriker, der den Dichter
freilich nicht nur der äußerlichen Ueberwindung in seiner Werkstatt belauscht und sich vollkommen
technischer Schwierigkeiten, sondern der Fähigkeit, klar darüber ist, mit welchen ethischen und tech-

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