EINE SENSUALISTISCHE KUNSTLEHRE K^s^-
SASCHA SCHNEIDER GLUT
Große Kunstausstellung Dresden 1904
nischen Mitteln er seine Wirkungen erzielt. Und Gebildeten der Schwerpunkt des Kunstgenusses nach
doch genießen beide in ihrer Art ästhetisch. Denn der einen oder anderen Seite verschiebt. So ist
auch der letztere muß, um über den Wert der Dich- es gewiß richtig, daß in der romantischen Dichter-
tung urteilen zu können, ihren Gefühlsgehalt auf schule der Schwerpunkt nach der Seite des Gefühls
sich wirken lassen, und auch der erstere wird sich verschoben war und daß die Malerei der Impressio-
dem Gefühle niemals so hingeben, daß er völlig ver- nisten eine Verschiebung nach der Seite der ver-
gäße, eine dichterische Fiktion vor sich zu haben. standesmäßigen Bewunderung voraussetzt. Ob wir
Nur überwiegt beim Backfisch unverhältnismäßig jede dieser Verschiebungen billigen oder nicht, hängt
die sympathische Gefühlserregung und beim Literar- lediglich von unserer eigenen Disposition oder ge-
historiker unverhältnismäßig die Bewunderung des nauer gesagt, von unserem eigenen Temperament ab.
Dichters. Aufgeregte Menschen, denen die Tränen sehr locker
Man wird nun theoretisch vielleicht sagen dürfen, sitzen, werden für die Romantik vielleicht mehr übrig
daß die höchste Stufe des Kunstgenusses in der haben als für den Klassizismus, und Phlegmatiker
Mitte zwischen diesen beiden Extremen liegt, d. h. werden eine intime und realistische Kunst vielleicht
da, wo die beiden Vorstellungsreihen in vollkommen mehr bewundern als eine Kunst der ewigen Gefühls-
gleicher Stärke zustande kommen. Ein Künstler also, duselei und der großen welterschütternden Ideen,
der gleichzeitig die Vorbedingungen für eine gerechte Eine Alleinberechtigung kann man keiner dieser
Würdigung der technischen Mache und doch auch Zwischenstufen zusprechen, und es liegt in der
wieder ein so intensives Gefühl für das Leben hätte, Subjektivität der menschlichen Natur begründet,
daß er sich dem Gefühlsgehalt eines Kunstwerks daß niemand mit Sicherheit den Punkt bestimmen
vollkommen hingeben könnte, würde in seinem kann, der die richtige Mitte zwischen den beiden,
Urteil den Höhepunkt des ästhetischen Genusses an sich gewiß einseitigen Extremen bezeichnet,
verkörpern. Dann müßte es offenbar das Ziel Die Kunstentwicklung wird sich deshalb immer in
jedes Kunstgenusses und jeder Kunstkritik sein, der Form eines Wechsels, eines Hinundherschwan-
sich diesem Punkte möglichst zu nähern. Aber kens zwischen beiden Extremen bewegen. Und es
begreiflicherweise wird dieses Ziel nur von ver- ist ganz natürlich, daß wenn sich das Zünglein der
hältnismäßig wenigen erreicht, und es kann ganze Wage in der einen Periode mehr nach der einen
Perioden geben, in denen sich bei der Mehrheit der Seite geneigt hat, es in der nächstfolgenden Periode
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SASCHA SCHNEIDER GLUT
Große Kunstausstellung Dresden 1904
nischen Mitteln er seine Wirkungen erzielt. Und Gebildeten der Schwerpunkt des Kunstgenusses nach
doch genießen beide in ihrer Art ästhetisch. Denn der einen oder anderen Seite verschiebt. So ist
auch der letztere muß, um über den Wert der Dich- es gewiß richtig, daß in der romantischen Dichter-
tung urteilen zu können, ihren Gefühlsgehalt auf schule der Schwerpunkt nach der Seite des Gefühls
sich wirken lassen, und auch der erstere wird sich verschoben war und daß die Malerei der Impressio-
dem Gefühle niemals so hingeben, daß er völlig ver- nisten eine Verschiebung nach der Seite der ver-
gäße, eine dichterische Fiktion vor sich zu haben. standesmäßigen Bewunderung voraussetzt. Ob wir
Nur überwiegt beim Backfisch unverhältnismäßig jede dieser Verschiebungen billigen oder nicht, hängt
die sympathische Gefühlserregung und beim Literar- lediglich von unserer eigenen Disposition oder ge-
historiker unverhältnismäßig die Bewunderung des nauer gesagt, von unserem eigenen Temperament ab.
Dichters. Aufgeregte Menschen, denen die Tränen sehr locker
Man wird nun theoretisch vielleicht sagen dürfen, sitzen, werden für die Romantik vielleicht mehr übrig
daß die höchste Stufe des Kunstgenusses in der haben als für den Klassizismus, und Phlegmatiker
Mitte zwischen diesen beiden Extremen liegt, d. h. werden eine intime und realistische Kunst vielleicht
da, wo die beiden Vorstellungsreihen in vollkommen mehr bewundern als eine Kunst der ewigen Gefühls-
gleicher Stärke zustande kommen. Ein Künstler also, duselei und der großen welterschütternden Ideen,
der gleichzeitig die Vorbedingungen für eine gerechte Eine Alleinberechtigung kann man keiner dieser
Würdigung der technischen Mache und doch auch Zwischenstufen zusprechen, und es liegt in der
wieder ein so intensives Gefühl für das Leben hätte, Subjektivität der menschlichen Natur begründet,
daß er sich dem Gefühlsgehalt eines Kunstwerks daß niemand mit Sicherheit den Punkt bestimmen
vollkommen hingeben könnte, würde in seinem kann, der die richtige Mitte zwischen den beiden,
Urteil den Höhepunkt des ästhetischen Genusses an sich gewiß einseitigen Extremen bezeichnet,
verkörpern. Dann müßte es offenbar das Ziel Die Kunstentwicklung wird sich deshalb immer in
jedes Kunstgenusses und jeder Kunstkritik sein, der Form eines Wechsels, eines Hinundherschwan-
sich diesem Punkte möglichst zu nähern. Aber kens zwischen beiden Extremen bewegen. Und es
begreiflicherweise wird dieses Ziel nur von ver- ist ganz natürlich, daß wenn sich das Zünglein der
hältnismäßig wenigen erreicht, und es kann ganze Wage in der einen Periode mehr nach der einen
Perioden geben, in denen sich bei der Mehrheit der Seite geneigt hat, es in der nächstfolgenden Periode
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