E. VON ESSEÖ. PORTRÄTBÜSTE RUTH SCHAU MANN
DIE BILDHAUERIN ELISABETH VON ESSEO
Worin besteht wohl das Geheimnis antiker
Plastik, an die wir stets erinnert werden, wo
immer das Problem plastischen Schaffens —
und sei es auch in Gestalt einer modernsten
Schöpfung — uns zu Gesicht kommt? Eine
Venus oder eine Jünglingsfigur, die jahrhun-
dertelang auf dem Boden des Meeres gelegen,
wird eines Tages an irgendeine Küsle gespült;
Kopf und Arme fehlen, die Oberfläche des
bronzenen Leibes ist vom Spiel der Wasser
glatt gerieben worden und aller plastischen Ein-
zelheiten, all der kleinen intimen Wunder des
menschlichen Körpers bar — aber siehe! noch
in dieser äußersten Zerstörung und Entstellung
offenbart das Werk das tiefe Geheimnis einer
unvergänglichen Schönheit. Ob man von einer
gotischen Plastik das gleiche aussagen könnte
oder von einem Bildwerk Rodins, Lehmbrucks,
Minnes, bei denen Kraft, Sinn, Ausdruck der
bildhauerischen Gestaltung durchaus und fast
ausschließlich in den Details der leise oder
stürmisch bewegten Oberfläche, der dramati-
schen Silhouette, dem Pathos verkrampfter
oder ausladender Gesten und der oft erzähle-
rischen Drastik ihrer Figuren liegt? Sicherlich
nicht. Aber neben dieser einen Hauptmöglich-
keit plastischen Schaffens wird es immer wieder
jenen anderen, antik gerichteten Formwillen
geben, der keinerlei Aktion, keine irgendwie
naturalistisch oder unmittelbar geistig betonte
Wirkung anstrebt, sondern einzig eine schöne
Zuständlichkeit, ein in sich befriedigtes Ver-
hältnisleben der Flächen, Formen und Massen,
eine schlechthin notwendige Körperharmonie,
die so unzerstörbar die Hauptakzente des Lei-
bes, Becken und Schenkel, Brust und Rücken
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DIE BILDHAUERIN ELISABETH VON ESSEO
Worin besteht wohl das Geheimnis antiker
Plastik, an die wir stets erinnert werden, wo
immer das Problem plastischen Schaffens —
und sei es auch in Gestalt einer modernsten
Schöpfung — uns zu Gesicht kommt? Eine
Venus oder eine Jünglingsfigur, die jahrhun-
dertelang auf dem Boden des Meeres gelegen,
wird eines Tages an irgendeine Küsle gespült;
Kopf und Arme fehlen, die Oberfläche des
bronzenen Leibes ist vom Spiel der Wasser
glatt gerieben worden und aller plastischen Ein-
zelheiten, all der kleinen intimen Wunder des
menschlichen Körpers bar — aber siehe! noch
in dieser äußersten Zerstörung und Entstellung
offenbart das Werk das tiefe Geheimnis einer
unvergänglichen Schönheit. Ob man von einer
gotischen Plastik das gleiche aussagen könnte
oder von einem Bildwerk Rodins, Lehmbrucks,
Minnes, bei denen Kraft, Sinn, Ausdruck der
bildhauerischen Gestaltung durchaus und fast
ausschließlich in den Details der leise oder
stürmisch bewegten Oberfläche, der dramati-
schen Silhouette, dem Pathos verkrampfter
oder ausladender Gesten und der oft erzähle-
rischen Drastik ihrer Figuren liegt? Sicherlich
nicht. Aber neben dieser einen Hauptmöglich-
keit plastischen Schaffens wird es immer wieder
jenen anderen, antik gerichteten Formwillen
geben, der keinerlei Aktion, keine irgendwie
naturalistisch oder unmittelbar geistig betonte
Wirkung anstrebt, sondern einzig eine schöne
Zuständlichkeit, ein in sich befriedigtes Ver-
hältnisleben der Flächen, Formen und Massen,
eine schlechthin notwendige Körperharmonie,
die so unzerstörbar die Hauptakzente des Lei-
bes, Becken und Schenkel, Brust und Rücken
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