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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 43.1927-1928

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Dorner, Alexander: Die Karikatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.16477#0301

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DIE KARIKATUR

Die Kestner-Gesellschaft in Hannover hat vor keinen Himmel mein-, wohl aber die Hölle, und
einiger Zeil eine Ausstellung der Karikatur seil er glaubt noch an Hexen und Teufel.
1800 gebracht. Sie hat sich damit auf ein Ge- Wenn man von vereinzeilen früheren Erschei-
net begeben, das zur Hälfte in die Geschichte Hungen absieht, kann man sagen, daß erst die
der Kultur gehört und nur zur Hälfte als Kunst Auf klärimg und die französische Revolution
bezeichnet werden kann. diesen letztenSchleierdes Mittelallersforlreißen.
Die Karikatur kann erst in dem Moment der Mit ihr erst beginnt der offene ungehemmte
Entwicklung menschlicher Kultur auftauchen, Kampf gegen die Bindungen und Ordnungen der
wo der Wille vorhanden ist, sich von festen Kirche, der Gesellschaft und Politik, und so ist es
Bindungen jeder Art zu befreien. Die Karika- auch innerlich begründet, wenn die Ausstellung
tur ist in jedem Falle Zersetzung. die Karikatur erst etwa seit i8nO zeigte.
Das Mittelalter, das sich im Goltesstaat eine Aber noch ein Zweites ist zur Diskussion zu
Bindung der gesamten europäischen Menschheit stellen, was zunächst mit Recht absurd erschei-
geschalfen hatte, der jeder Mensch und jede nen wird: Ist nicht auch das Christentum Vor-
Erscheinung eingeordnet war, ja die den Men- aussetzung für das Zustandekommen der Kari-
schen als Persönlichkeit völlig ausschaltete, und katur, wie wir sie seit rund i8no haben? Hat
wo jeder eigentlich nur ein Glied einer Organi- nicht gerade dieselbe Religion, die in einem
sation war. die sich wieder einer anderen unter- bestimmten Stadium ihrer Wirkung auf die
ordnete— das Mittelalter kennt keine Karikatur, europäische Menschheit, nämlich im Mittelalter,
es kennt nur groteske Spukgeslallen. diesen ungeheuren Pyramidenbau von Organi-
Die Renaissance beginnt zunächst in ihren sationen und Bindungen schuf, zugleich auch
Totentänzen, dann in ihren Darstellungen des in der gesamten Menschheit Moral begriffe er-
Jüngslen Gerichts, die Vertreter dieser Organi- zeugt, die offen oder versleckt auch die Vor-
salionen zu verhöhnen, und zwar wie natürlich aussetzung für einen sehr großen Teil der
vor allem kirchlicheVN ürdenträger undMönche, Karikatur sind? Ist nicht die uns allenselbstver-
und die Reformation erzeugte Pamphlete. Aber ständliche und angeborene Vorstellung der
wir werden das immer noch nicht als selb- Nächstenliebe aucli dasjenige Gefühl, mit dem
ständige Karikatur bezeichnen können. Denn die Karikatur als Grundlage rechnet, wenn sie
immer ist noch ein Rahmen da, innerhalb dessen die Roheit, die Verlogenheit, die egoistische
die Verhöhnungen vereinzelt auftauchen. Und Dummheit, die Gleichgültigkeit in jeder Form,
ebenso ist es bei Pieter Rrueghel und Hierony- die Selbstüberhebung und die \ erkommenheit
mus Bosch. Ihre Schreckgespenster sind exzen- jederArl geißelt? Mir scheint, je mehr man der
Irische bizarre Gesichle. Sie verhöhnen nichts, Frage nachgeht, um so wahrscheinlicher wird
sondern sie sind beängstigende Schreie, die aus ihre Beantwortung durch ein: „Ja!". Denn die
einer inneren Hilflosigkeit ausgestoßen werden. Karikatur der Antike ist eben deshalb eher
Man spürt bei Brueghel, wie die Zweifel auf grotesk, weil diese Vorstellung fehlte, die das
seine geängstigte Seele einstürmen, die statt Christentum geschaffen hat, nämlich das Gefühl
himmlischer Heerscharen Hexen sieht. Ja selbst für den Nächsten und die Mitverantwortung
bei einem genialen Künstler, der schon fast in für den Nächsten.

unsere Zeit gehör t, bei Goya, kann man aus Man könnte versucht sein, die moderne Kari-

demselben Grunde m. E. noch nicht von Kari- katur seit 1800 als ein negatives Kampfmittel

katur sprechen. Denn obgleich er ein wütender für die europäischen Moralbegriffe zu bezeich-

Feind der Mönche ist und das Ekelhafte des nen. Daß diese heute mit der Konfession gar

Krieges in seiner Nacktheit zeigt, lastet es doch nichts mehr zu tun haben, sondern außerhalb

wie ein Druck auf allen seinen Schöpfungen ihrer überall dem heutigen Menschen einge-

dieser Art. Auch für ihn ist die Welt noch boren sind, braucht eigentlich gar nicht beson-

voiler dunkler Mächte. Seine Phantasie sieht ders erwähnt zu werden. Die Karikatur führt

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