haben ihre plastische Fülle verloren: die starke Tie-
fenbewegung von Stirn — Augenbögen — Augen
ist verflacht: die Teile sind nicht eingespannt in den
Strom einer starken Innenbewegung, sondern ein-
zeln nebeneinander ausgebreitet, mit schematischen
Ritzlinien begrenzt: Zeichen einer manieristischen
Erstarrung. Und wenn auch Stirne, Augenbögen,
Wangen und Kinn mit feiner plastischer Empfin-
dung gewölbt sind, so ist doch die Spannung, die
diese Teile zum Bild eines Angesichtes bindet, um
viele Grade schwächer als in den Werken des Meisters.
Kehren wir von diesem Schulwerk wieder zu dem
Bamberger Kopf zurück, dann kann noch eindring-
licher schaubar werden, welch unendlicher Reich-
tum der Form dieses Antlitz belebt; wie die Besee-
lung dieser Stirne. dieser Augen, dieser Wangen
von einer Ausdruckskraft ist, die nur aufs höchste
gestalteter Form zu entströmen vermag, weil diese
allein alles nur Stoffliche des Ausdruckes zu ver-
klären vermag in einem Sinn-Bild des Musischen.
E.K.
Architektur als Moral. Von Wilhelm Pinder
Der nachfolgende Aufsatz entstand zum 70. Geburtstag Heinrich Wölfflins*), der Anlaß
liegt also einige Zeit zurück. Dennoch sind wir der Meinung, daß der Inhalt dieser
Betrachtung auch für die unmittelbare Gegenwart von zu großer Bedeutung sei, als daß
wir ihn um der anlaßgebundenen Form willen unseren Lesern vorenthalten dürften.
Die reichsdeutschen Kunsthistoriker, die dem gro-
ßen Vorbilde Heinrich Wölfflin zum 70. Geburts-
tage ihre Verehrung ausdrücken wollen, stehen
heute in einer Lage, die der Verehrte selber niemals
erlebt hat, die er selber nicht wird teilen können.
Ihr Volk, in dessen Kunst der große Schweizer aus
dem Bewußtsein natürlicher und geistiger Zuge-
hörigkeit so tiefe Einsichten eröffnet hat, nimmt
einen Aufschwung aus verzweifelter Not, den die
Welt noch nicht verstehen will, der aber uns alle,
die wir dazu gehören, leidenschaftlich angeht, und
der gerade den Lebendigsten die Frage entgegen-
wirft: was soll noch Kunstgeschichte heute, wo das
Lehen nach Taten ruft? Was darf und soll noch
Betrachten, wo Handeln das Nötigste geworden ist?
Es wäre unecht und unrecht, es entspräche nicht der
aufrichtigen Verehrung, die wir dem großen, un-
seren äußeren Grenzen entrückten Geiste entgegen-
bringen, wenn unsere Lage nicht gerade hier zu-
gleich mit unserem Danke und unserer Bewunde-
rung zum Ausdruck käme.
Wir spüren aber auch: Wir dürfen auf Verständnis
rechnen. Denn nichts wäre falscher, als in Wölfflins
Lebensarbeit ein hintergrundsloses Ringen um das
Verständnis lediglich von Formen und ihrer Ge-
schichte zu sehen. Wir wissen — mancher vielleicht
erst neuerdings, mancher schon seit langem —,
welche Bedeutung dem Worte Gesinnung gerade in
seiner Darstellungskunst innewohnt. Große Form
ist nicht da ohne große Gesinnung. Wer dieses Ge-
fühl, das selber Gesinnung ist, nicht gerade aus den
formverständigsten und selber formvollendetsten
Schriften Wölfflins gewonnen hat, der hat ihn
gewiß nicht verstanden. So vertraut auch derjenige,
der Wölfflins letzten reichsdeutschen Lehrstuhl zu
") Festschrift zum 70. Geburtstag Heinrich Wölfflins. Verlag Wolfg.
Jess, Dresden 1956.
betreuen hat, darauf, daß er verstanden wird, wenn
er in freier Form, ohne ausgreifende wissenschaft-
liche Beweise, manches schon anderwärts Gesagte
getrost wiederholend, sein Bekenntnis ablegt, einen
Teil wenigstens des allgemeineren Bekenntnisses
gibt, das ihn in die Reihen der neuen Bewegung
treiben mußte.
Anschauung der Welt ist Weltanschauung. Bildende
Kunst ist Weltanschauung, in unsprachlicher Form
geäußert — oder verraten. Ihre Form drückt Ge-
sinnung aus. Gesinnung ist ein sittlicher Begriff.
Formengeschichte ist also auch Gesinnungs-, auch
Sittlichkeitsgeschichte. Wissenschaft aber ist Lei-
denschaft. Echte Wissenschaft von der Kunst ist
leidenschaftliche Mühe um den Sinn von formge-
wordenen Gesinnungen, echte Kunstgeschichte lei-
denschaftliche Mühe um die Schicksale dieser Ge-
sinnungen — unserer eigenen zuerst, wie sie unsere
Vorfahren, ihre Verwandten, ihre Nachbarn erlebt
und geformt haben. Wissen um Geschichte der For-
men kann heute aufrechthalten. Die Leidenschaft
des Forschens wird gerade dem heutigen Deutschen
in einer neuen Weise zu einer Leidenschaft des
Wollens. Das Betrachten wird wieder zum Handeln.
Innerhalb der Kunstgeschichte, auf die wir zurück-
blicken können, scheint die Gesinnung, die ein
Kunstwerk bezeugt, immer um so mehr die ein-
malige einer Persönlichkeit geworden zu sein, je
später dieses Kunstwerk war; je früher es war, desto
mehr scheint es von einem allgemeineren Ganzen
auszusagen. Freilich, auch eine echte Persönlichkeit
ist noch immer nichts gänzlich aus der Welt Geris-
senes. Eben deshalb können ja Persönlichkeiten zum
Volke zurück, können gerade Persönlichkeiten ein
Volk wiederherstellen. Eine echte Persönlichkeit ist
Volk, Stamm, Familie, Typus in einer einmaligen
Zuspitzung. Wölfflin selber, seine eigene, so un-
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fenbewegung von Stirn — Augenbögen — Augen
ist verflacht: die Teile sind nicht eingespannt in den
Strom einer starken Innenbewegung, sondern ein-
zeln nebeneinander ausgebreitet, mit schematischen
Ritzlinien begrenzt: Zeichen einer manieristischen
Erstarrung. Und wenn auch Stirne, Augenbögen,
Wangen und Kinn mit feiner plastischer Empfin-
dung gewölbt sind, so ist doch die Spannung, die
diese Teile zum Bild eines Angesichtes bindet, um
viele Grade schwächer als in den Werken des Meisters.
Kehren wir von diesem Schulwerk wieder zu dem
Bamberger Kopf zurück, dann kann noch eindring-
licher schaubar werden, welch unendlicher Reich-
tum der Form dieses Antlitz belebt; wie die Besee-
lung dieser Stirne. dieser Augen, dieser Wangen
von einer Ausdruckskraft ist, die nur aufs höchste
gestalteter Form zu entströmen vermag, weil diese
allein alles nur Stoffliche des Ausdruckes zu ver-
klären vermag in einem Sinn-Bild des Musischen.
E.K.
Architektur als Moral. Von Wilhelm Pinder
Der nachfolgende Aufsatz entstand zum 70. Geburtstag Heinrich Wölfflins*), der Anlaß
liegt also einige Zeit zurück. Dennoch sind wir der Meinung, daß der Inhalt dieser
Betrachtung auch für die unmittelbare Gegenwart von zu großer Bedeutung sei, als daß
wir ihn um der anlaßgebundenen Form willen unseren Lesern vorenthalten dürften.
Die reichsdeutschen Kunsthistoriker, die dem gro-
ßen Vorbilde Heinrich Wölfflin zum 70. Geburts-
tage ihre Verehrung ausdrücken wollen, stehen
heute in einer Lage, die der Verehrte selber niemals
erlebt hat, die er selber nicht wird teilen können.
Ihr Volk, in dessen Kunst der große Schweizer aus
dem Bewußtsein natürlicher und geistiger Zuge-
hörigkeit so tiefe Einsichten eröffnet hat, nimmt
einen Aufschwung aus verzweifelter Not, den die
Welt noch nicht verstehen will, der aber uns alle,
die wir dazu gehören, leidenschaftlich angeht, und
der gerade den Lebendigsten die Frage entgegen-
wirft: was soll noch Kunstgeschichte heute, wo das
Lehen nach Taten ruft? Was darf und soll noch
Betrachten, wo Handeln das Nötigste geworden ist?
Es wäre unecht und unrecht, es entspräche nicht der
aufrichtigen Verehrung, die wir dem großen, un-
seren äußeren Grenzen entrückten Geiste entgegen-
bringen, wenn unsere Lage nicht gerade hier zu-
gleich mit unserem Danke und unserer Bewunde-
rung zum Ausdruck käme.
Wir spüren aber auch: Wir dürfen auf Verständnis
rechnen. Denn nichts wäre falscher, als in Wölfflins
Lebensarbeit ein hintergrundsloses Ringen um das
Verständnis lediglich von Formen und ihrer Ge-
schichte zu sehen. Wir wissen — mancher vielleicht
erst neuerdings, mancher schon seit langem —,
welche Bedeutung dem Worte Gesinnung gerade in
seiner Darstellungskunst innewohnt. Große Form
ist nicht da ohne große Gesinnung. Wer dieses Ge-
fühl, das selber Gesinnung ist, nicht gerade aus den
formverständigsten und selber formvollendetsten
Schriften Wölfflins gewonnen hat, der hat ihn
gewiß nicht verstanden. So vertraut auch derjenige,
der Wölfflins letzten reichsdeutschen Lehrstuhl zu
") Festschrift zum 70. Geburtstag Heinrich Wölfflins. Verlag Wolfg.
Jess, Dresden 1956.
betreuen hat, darauf, daß er verstanden wird, wenn
er in freier Form, ohne ausgreifende wissenschaft-
liche Beweise, manches schon anderwärts Gesagte
getrost wiederholend, sein Bekenntnis ablegt, einen
Teil wenigstens des allgemeineren Bekenntnisses
gibt, das ihn in die Reihen der neuen Bewegung
treiben mußte.
Anschauung der Welt ist Weltanschauung. Bildende
Kunst ist Weltanschauung, in unsprachlicher Form
geäußert — oder verraten. Ihre Form drückt Ge-
sinnung aus. Gesinnung ist ein sittlicher Begriff.
Formengeschichte ist also auch Gesinnungs-, auch
Sittlichkeitsgeschichte. Wissenschaft aber ist Lei-
denschaft. Echte Wissenschaft von der Kunst ist
leidenschaftliche Mühe um den Sinn von formge-
wordenen Gesinnungen, echte Kunstgeschichte lei-
denschaftliche Mühe um die Schicksale dieser Ge-
sinnungen — unserer eigenen zuerst, wie sie unsere
Vorfahren, ihre Verwandten, ihre Nachbarn erlebt
und geformt haben. Wissen um Geschichte der For-
men kann heute aufrechthalten. Die Leidenschaft
des Forschens wird gerade dem heutigen Deutschen
in einer neuen Weise zu einer Leidenschaft des
Wollens. Das Betrachten wird wieder zum Handeln.
Innerhalb der Kunstgeschichte, auf die wir zurück-
blicken können, scheint die Gesinnung, die ein
Kunstwerk bezeugt, immer um so mehr die ein-
malige einer Persönlichkeit geworden zu sein, je
später dieses Kunstwerk war; je früher es war, desto
mehr scheint es von einem allgemeineren Ganzen
auszusagen. Freilich, auch eine echte Persönlichkeit
ist noch immer nichts gänzlich aus der Welt Geris-
senes. Eben deshalb können ja Persönlichkeiten zum
Volke zurück, können gerade Persönlichkeiten ein
Volk wiederherstellen. Eine echte Persönlichkeit ist
Volk, Stamm, Familie, Typus in einer einmaligen
Zuspitzung. Wölfflin selber, seine eigene, so un-
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