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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 53.1937-1938

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Vom Wesen der geprägten Form: eine Betrachtung über Meisterschaft, Schule und Nachahmung
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https://doi.org/10.11588/diglit.16486#0248

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Vom Wesen der geprägten Form. Eine Betrachtung über Meisterschaft, Schule und Nachahmung

Vor uns liegt die Wiedergabe einer Landschafts-
zeichnung von Rembrandt (siehe nächste Seite). Wie
jede Wiedergabe in Buchdruck ist sie nur ein Ab-
glanz des Urbildes: und doch, auch aus diesem ab-
geschwächten Widerschein vermögen wir noch etwas
zu erspüren von dem Einzigartigen, was nur Rem-
brandt in den Strichen seiner Feder und seines Pin-
sels uns zu schenken hat.

Die Zeichnung ist in der Umgebung Amsterdams
vor der Natur entstanden. Sie ist deshalb nicht so
zum ausgeglichenen Bilde geschlossen wie die gro-
ßen Landschaftsgemälde. End dennoch ist sie alles
andere als „Naturabschrift"', dennoch ist sie höch-
stes Beispiel von Gestaltung. Der gegenständliche
Vorwurf: ein Uferweg an der Amstel, ein Haus,
ein Gehölz. Aber was ist es nun, was Rembrandt
aus diesen Gegenständen macht?
Es ist nicht ein Abbild der Dinge, das er gibt, son-
dern er gibt uns eine Zeich-nung, d. i. eine Zeichen-
Setzung. Er erschafft aus Form-Zeichen ein Bild, d. i.
ein Sinn-Gebilde schöpferischer Anschauung. Die
Striche und Flecke seiner Zeichnung sind nicht
Abbild, nicht Spiegelbild einer Erscheinung, son-
dern sie sind Deutung der Welt, Deutung, uns er-
schlossen vom schöpferischen Auge eines dazu Be-
gnadeten.

Was deuten sie? Als erstes die ,,Form': der Dinge,
ihre „Struktur"; dann wie diese Formen zusam-
mengehen, zusammenklingen zu einer „Bewegt-
heit"' : das Sparrige mit dem Weichen, das Bröck-
lige mit dem Glatten. Dann wie die Dinge zusam-
menstehen und zusammensprechen zu einer weite-
ren Beziehung: dem Bäumlichen. Schließlich die
Farbigkeit der Dinge: nicht nur das Weiche des
Sandes, das Glatte des Wassers, sondern auch das
Durchlichtete des Sandes, das Spiegelnde des Was-
sers. End als Ganzes erschließt uns die Deutung
den musischen Zusammenklang all dieser Form-
und Tonwerte zu der Bildschau lichterfüllter
Räumlichkeit.

Dringen wir im einzelnen in diese „Zeichen-
sprache" ein: Beginnen wir mit dem Segelboot, das
in leichtem Wind über das Wasser gleitet. Schon
hier können wir fassen, wie ungeheuer geladen mit
Form-Bedeutung diese scheinbar flüchtigen und
lockeren Striche sind. Wenn wir unser Auge dieser
musischen Sprache öffnen, dann erleben -wir, wie
der „Zug" dieser Striche unserer Anschauung etwas
„--gt", etwas „klarlegt'': wir sehen nicht nur, wir
erleben als einen Zusammenhang im Bereiche unse-
res geistigen Auges „die Bewegtheit": wie das Segel
„sich spannt", wie dagegen der Wimpel „lose flat-
tert". Gehen wir weiter mit dem Auge über das
Wasser, dann erleben wir, wie einige Pinselstriche
auf dem Papier — nicht einen billigen .,Glanz-
effekt", sondern die Vision spiegelnder Glätte er-
stehen lassen. Blicken wir weiter, so sehen wir stoff-
lich nur einige Feder- und Pinselstriche, als stoff-
liches Motiv nur einen Uferweg. Geistig aber sind

diese Zeichen von einer unerhörten Zauberkraft.
Denn wessen Auge über das Stoffliche sich zu er-
heben vermag, dem erschließen diese Striche einen
wunderbaren Reichtum an Formerleben: er sieht
die weich bewegte, besonnte Oberfläche des Sandes,
wie sie in weiter Mulde sich breitet und in die
Tiefe erstreckt; wie sie durchsetzt ist von anderen
Strukturen, durchklungen von anderen Rhythmen:
vom Büscheligen des Schilfes, vom Festen eines
Brettes, vom Sparrigen eines Knüppelzaunes. Rechts
von dem Zaun sieht er aus dem weichen Sand das
Feste eines lichten Gemäuers, eines rauhen Stroh-
daches sich erheben; darüber die fiederigen und
kugeligen Massen der Bäume.

Er sieht das alles, aber nicht wie auf einem Licht-
bild, sondern er sieht es wie ein Gebilde aus einer
anderen, aus einer verklärten Welt, aus der Welt,
die die Sehnsucht des menschlichen Auges hinter
allem Unvollkommenen und allem Wandel der
Erscheinung sucht.

Tritt der Betrachter dann — nachdem er so die
farbigen „Strukturen" anschaulich erlebt hat —
von dem Bilde zurück, um sein Auge leichter zur
größeren Zusammenschau zu führen, dann beginnt
ein neues Leben zwischen den Dingen zu erwachen:
sie sprechen „in mehrstimmigem Chor" zusam-
men; und was sie so zusammen erklingen lassen,
das führt das Auge empor zu einer neuen Sicht:
die Strukturen der Dinge lassen „den Raum erklin-
ken" (aller gedanklichen Bemühung um „Perspek-
tive" weit entrückt!). Und da die Zeichen Rem-
brandts nicht allein geladen sind von Form-Bedeu-
tung, von Bewegtheit, da sie ebenso geladen sind
von Farb-Bedeutung — von Farbigkeit und Licht-
heit —, so lassen sie einen von Farbe und Licht er-
füllten Raum erklingen: Wir blicken hinweg über
die lichte Weite des Wassers, hinweg über die
weiche Mulde des Weges, über den Kamm des Zau-
nes ; wir blicken hindurch zwischen den Stämmen
der Bäume, hinein in die dämmrige Tiefe des Ge-
hölzes, in die lichte Ferne. Wir fühlen das Um-
fassende des Ganzheitseiiebnisses, das dem Auge
in solcher Sicht des Raumes gegeben wird.
Wir sehen die Welt damit nicht mehr als eine
Summe einzelner gegenständlicher Dinge, sie ist
uns neu erschaffen wie eine symphonische Musik,
nicht gemacht aus Abbildern stofflichen Seins, son-
dern gefügt, gesetzt aus Formzeichen, die uns nicht
die natürlichen Dinge in ihrer Vieldeutigkeit noch
einmal sehen, sondern die uns ein neu geformtes
Ganzes im Lichte einer idealen Welt schauen
lassen. —

Nun ist mit ihrem Ansehen das Erfassenkörrnen
solcher „Zeichen", solcher Sinngebilde des Bildneri-
schen, nicht ohne weiteres gewährleistet. T\ ollen
■wir aber des Einzigartigen teilhaftig werden, was
Rembrandt als bildender Künstler, als Formschöp-
fer zu geben hat, so müssen wir seine Zeichen-
setzung verstehen, d. h. ihren bildnerischen Sinn-

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