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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 53.1937-1938

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Pinder, Wilhelm: Architektur als Moral, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16486#0162

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aatliche Museen
Berlin

Architektur als Moral

Fortsetzung von Seite 147

erzeugt. Aber, was auch entstand, das klang, das
stimmte. Es war vor allem Sprache. Der Anspruch
Clunys auf Gottes Weltherrschaft durch den Papst
wurde zum Bauwerke. Der Gegenanspruch des Kai-
sertums formte sich unter dem großen und tragi-
schen Heinrich IV. zum Trutz- und Gegencluny
des Speyerer Domes. Der Sieg der Pisaner wurde
zum Dome von Pisa. Der Stolz jedes einzelnen
Herrn an der normannischen Küste sprach durch
Kirche und Turm. Es war nicht anders als in der
heroischen Zeit des Griechentumes. Die Form war
kein Problem, sie war nur eine selbstverständliche
Aufgabe, und, war die Aufgabe gelöst, eine spre-
chende Leistung. Ein noch unbezweifelter Glaube
bildete sie naturhaft durch. War oder schien gegen
den Glauben gehandelt, sollte wieder für ihn gehan-
delt werden, so war das Bauwerk der deutlichste
Zeuge der Gegenbewegung, es war geformte Moral.
Das erste Cluny wollte noch zu altchristlicher
Schlichtheit zurück. Das sprach sich im ersten Bau
aus. Als der Orden seinem eigenen ursprünglichen
Sinne untreu wurde, kam der übersteigerte Macht-
anspruch, der Verrat am alten eigenen Ideal, zum
naiv prahlerischen Ausdruck im dritten Bau. Als
Cisteaux dagegen aufstand, war die Askese der sitt-
lichen Absicht sofort deutlich als Askese der Form,
und so war immer Architektur nur ein moralisches
Bekenntnis. Städte wuchsen als Lebewesen heran —
gerade damals, als die Lehre vom Städtebau noch
kein Fachgebiet technischer Hochschulen sein
konnte. Und immer — noch heute sehen wir es —
stimmte alles, und alles klang.

Ein eingeborener Phantasietrieb, durchaus nicht
notwendig gefordert von der christlichen Lehre, ge-
fordert vielmehr von einer innersten Gestaltungs-
lust, die Lehre verwendend, um sich selbst zu ver-
wirklichen, schmückte die Kirchen mit einer Plastik,
die immer deutlicher die Verwandten der Griechen
verriet — doch wohl nirgends so deutlich als in
Deutschland. Sie bekleidete die Kirchen überwie-
gend da, wo man romanische Sprachen redete, sie
nahm vorzugsweise ihren Innenraum als Wohnstätte
bei den Deutschen. Sprache, der Architektur ent-
stammend, auch hier! Niemand dachte an eine
„ästhetische Würdigung". Das Werk entstand, um
da zu sein, nicht um betrachtet zu werden. Eben
darum hält es heute dem höchsten ästhetischen
Maßstabe stand. Die Größe des kirchlichen Bauwer-
kes hing nicht von der Zahl der Plätze ab, sondern
von der Gewalt der Raumphantasie. Die Figur an
oder in ihm konnte auch gut sichtbar werden, sie
wurde es zumeist: aber sie mußte es nicht. Sollte sie
unbedingt gesehen werden, so nicht run ihrer ästhe-
tischen Wirkung, sondern um ihrer Bedeutung wil-
len. Sie sollte eher „gelesen"1 werden als „gewür-
digt". Genau damals im 15. Jahrhundert, als sie die
größte \ ollendung erreichte, noch von monumen-
taler Baukunst gehalten und noch nicht vom Male-

rischen angenagt, genau damals schuf der Künstler
als namenloser Diener am Werke das Reinste, was
der Norden je an echt statuarischer Plastik hervor-
gebracht hat. Noch einmal: was er schuf, hält höch-
sten Maßstäben später ästhetischer Betrachtung
stand — zu seiner Zeit gab es gerade diese nicht,
wenigstens nicht als Arbeitsfeld des kritischen Be-
wußtseins. Die Sicherheit der Form lag in der Si-
cherheit des Überformalen.

Später dachte man an den Betrachter. Die große
Plastik war vom Ideal einer Adelsschicht getragen
gewesen, die Haltung und Benehmen selbstverständ-
lich als seelische und körperliche Verpflichtung zu-
gleich auffaßte — wie bei den Griechen des 5. Jahr-
hunderts. Der Ritteradel versank, das Bürgertum
trat in den Vordergrund. Mit ihm drang das Male-
rische durch, mit diesem die Anerkennung des Be-
trachters. Giottos gewaltige Form, unüberbietbar
knapp und hinreißend, wollte noch gelesen werden,
im Entlang eines rhythmischen und strophischen
Sehens. Um 1400 gelang die Aufforderung des Bil-
des zum senkrecht eindringenden Blicke. Sie war an
einen Betrachter gerichtet. Jetzt begann man an ihn
zu denken, ihn anzuerkennen. Nur weil der Be-
trachter nach allen drei Dimensionen des Raumes,
nach Sehwinkel. Augenhöhe und Entfernung zum
Bilde festgestellt wurde, nur ihm zuliebe entstand
die Perspektive, entstanden Augenpunkt und Di-
stanzpunkt als Formwert des Bildes. Große Werte
wurden dadurch geschaffen — aber auch große Ge-
fahren. Der Verehrende konnte zum Genießenden,
die Gemeinde zum Publikum werden und damit
einst das Ganze zur Summe zerfallen. Das konnte
nicht nur, es mußte zuletzt geschehen, es ist gesche-
hen. Einst wurden erlesene Künstler mit geschulten
Helfern vom großen Bamverke angefordert und er-
zogen. Heute bieten zahllose Künstler unerwünschte
Kunst in Kunstausstellungen an. Mit der ganzheit-
lichen Moral sank die Ganzheitlichkeit der Archi-
tektur und von da aus die ganzheitliche Moral alles
Künstlerischen. Seit der Betrachter anerkannt war,
begann auch für die Baukunst erst die Möglichkeit,
Selbstdarstellung des Architekten zu werden. Diese
konnte noch sehr großartig ausfallen, wie wir oft
genug gesehen haben. Immerhin war das Schicksal
der Architektur bereits an einzelne gegeben. Nun
hing es ganz anders als früher von der Größe des
einzelnen ab, ob eben diese eigene Größe noch ver-
tretungsfähig war für die Größe eines Ganzen.
Michelangelo war zu so etwas fähig, aber schon er
erfuhr die Leiden des Vereinsamten und litt privat
unter schon halb privaten Aufträgen. Er hatte, ähn-
lich Rembrandt und Beethoven an ähnlichen Stellen
späterer Geschichte, noch eben die Größe einer
Epoche namenloser Kunst, aber er wandte sie schon
an auf die Darstellung seines großen Ichs.
Seit dem 15. Jahrhundert diente auch das Ornament
erst deutlich der Schaubarmachung des architektoni-

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