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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 53.1937-1938

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Pinder, Wilhelm: Architektur als Moral, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16486#0163

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sehen Äußeren. Eine spätere Emporenbrüstung etwa
entfaltet nur noch eine Bildseite zum Ansehen: die
dem Betrachter abgewandte hat nur noch so viel Be-
deutung wie die Rückseite eines modernen Tafel-
bildes. Das heißt: hier ist ein Stück Form erloschen,
ein Stück Wachstum der Form aus sich selber her-
aus. Im älteren Bau, der keine Betrachter, sondern
Verehrende kannte, war auch das der Betrachtung
nicht Zugängliche durchgebildet, eine natürliche
Gestalt aus sich selbst heraus. Aber, wo früher auch
die andere Seite noch eine Gestalt war, gleichwertig
als Wachstum — so wie die Pflanze blüht, ohne sich
um uns zu kümmern —, da ist später die tote „Rück-
wand" da, der Blick hinter sie ein Blick hinter Ku-
lissen, ein Teil der Form Kulisse, der Raum schließ-
lich Theater. Darin steckt etwas Moralisches: der
Keim der Lüge. Sicher steigerte sich die menschliche
Phantasie gerade daran zu neuen Taten, sicher wur-
den hier auch im Barock noch großartige Siege er-
fochten, die letzten Siege eines verzweifelt kämpfen-
den Ganzheitsgefühls. Wir dürfen sie in den letzten
Werken des deutschen Barocks erkennen. Dann aber
drang, gerade von den vornehmsten Gefühlen ge-
lenkt, eine Betrachtung durch, die zuletzt vom
sprachlichen Denken her erzeugt war, ein erster
großer Reuevorgang, in mancher Beziehung eine
Vorahnung dessen, was heute in uns vorgeht. Nicht
zufällig hat auch damals Deutschland einen Befrei-
ungskampf durchgefochten. Aber die edle Haltung
des Klassizismus verlor sich zum großen Teil in
flächenhaften Träumen. Sein Bestes gedieh auf Pa-
pier. Man denke nur an die rein abstrakten, gerade
die architektonischen Entwürfe für die Denkmäler
Friedrichs des Großen, der Befreiungskriege, des
damaligen „Weltfriedens". Noch war vom Barock
her, von der noch unzweifelhaften Ganzheitlichkeit,
die aber schon ein dynastisch beherrschtes Leben
dem Volke hatte abzwingen müssen, ein Stück he-
roischen Ausdrucks im Klassizismus erhalten ge-
blieben. Aber dieser Stil, der erste, der mit voller
Bewußtheit moralisch gemeint war, konnte die Mo-
ral des Europäertums selber nicht schaffen. Moral
in der Architektur ist eben doch nur möglich durch
die Moral der menschlichen Ganzheit, die dahinter
steht. So entschwand aus dem Klassizismus das Erbe
des Barocks: das Heroische. Was übrigblieb, nennen
wir, solange es noch mit dem schlichten Formenan-
stande des Klassizismus zusammenhängt, Bieder-
meier. Dieses sicherte noch, solange es eine beschei-

den anständige Bürgerlichkeit gab, auch für diese
einen Ausdruck von Behagen und Schlichtheit. Der
Zerfall aber war unaufhaltsam. Die Stilhetze be-
gann. Architektur wurde zur Lüge. Warum? Der
Mensch hatte, auch als einzelner, seine Ganzheit-
lichkeit verloren, also den Stil. Der Begriff des Voll-
menschen lebte nicht mehr. Ein Mensch mit über-
züchtetem Gehirn oder mit einseitigem Augensinne,
dafür aber mit vernachlässigtem Körper und stump-
fen Sinnen gegenüber echt Architektonischem, auch
echt Plastischem, galt als ..gebildet" und war doch
keineswegs gestaltet. Er galt als vollwertig, uns gilt
er als minderwertig. Damit hängen alle, dem Aus-
lande oft so unverständlichen, oft so gewaltsam er-
scheinenden neuen Bestrebungen in der Menschen-
gestaltung bei uns zusammen. Wir wollen den einzel-
nen zu einem vollwertigen Menschen machen, ohne
überzüchtetes Gehirn, ohne Einseitigkeit, mit gesun-
dem Körper, gesundem Geist, gesunder Seele. Gelingt
es, diesen Menschen wieder zu schaffen, gelingt es, ein
A'olk solcher Art in einem heißen und einheitlichen
Glauben zu vereinigen, so heißt das alles andere als die
Züchtung von Einheitsmenschen — die das Ende wä-
ren. Gerade dann wird der vornehme und führende
Einzelne unter Erhaltung des ewigen schöpferischen
Rangunterschiedes der Persönlichkeiten allgemein
ähnlich proportionierte, aber durchaus persönliche,
durchaus verschiedenartige, in sich nach Möglich-
keit freie, freiwillig gebundene Menschen zu führen
haben. Wenn dies gelingt, dann wird man auch in
einer neuen großen Architektur diese moralische
Gesundung so selbstverständlich sich ausdrücken
sehen, wie das Wesen jedes unverbogenen Vollmen-
schen in Gestalt und Gesicht zum Ausdruck kommt.
Jede Zeit nach, uns wird unsere Moral im weitesten
Sinne nach unserer Baukunst beurteilen müssen.
Wir haben zu ihr erst die Ansätze. Wir haben auch
erst die Ansätze zu unserem Menschenideal. Dieses
hat voranzugehen. Wenn es aber siegt — und es
wird siegen —, so wird man zu unseren Ehren auch
Moral wieder als Architektur vor sich sehen.
Dies ist ein Bekenntnis. Es wurde keineswegs ab-
gelegt, um sich aufzudrängen; es wurde gewagt,
selbst auf die Gefahr hin, daß es rein sachlich nicht
überzeuge. Aber echte Verehrung einer großen Per-
sönlichkeit fordert und erlaubt die freie Darlegung
eines eigenen Standpunktes. Je ehrlicher sie als Be-
kenntnis ist, um so deutlicher ist sie auch ein Zei-
chen vertrauensvoller Verehrung.

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