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Der zweite Punische Krieg bis Cannae.
durch Hunger, Kälte und Nässe erschöpfte Masse mochte noch etwa
20 000 Mann betragen, die von nahezu 40 000 Mann zu Fuß und zu
Roß umdrängt und umschwärmt wurden1).
Daß dabei von einem Durchbruche irgendwie nennenswerter Ab-
teilungen nicht mehr die Rede sein konnte, dürfte von vornherein klar
sein. Es ist denn auch in unserer besseren Überlieferung, bei Polybios,
keine Rede davon. Mißverständnis und patriotischer Übereifer der
römischen Überlieferung haben das erst in den Schlachtbericht hinein-
getragen, und neuere Darsteller sind dem mit Unrecht gefolgt2).
1) Daß auch die gesamte Reiterei jetzt zur Stelle war, geht außer der in der
vor. A. angezogenen Notiz auch aus Pol. III 74, 5 hervor, wo es von den 10000
Römern nach dem Durchbrnche heißt, sie seien nicht in die Schlacht oder ins Lager
zurückmarschiert vcfogcouevoi to rclrjd'os tG>v itztcswv.
2) Unmittelbar nach Erzählung des Durchbruches der 10 000 fährt Pol. III 74, 7
mit den schon angeführten Worten fort: twv 8t lotnüv ol nleioioi negi töv noraudv
tyd-ügrjoav vnö rs rßv d-rjo(o>v xai r&v Innecov. Hier ist also ganz sachgemäß
von weiteren Durchbrächen der Römer keine Rede mehr, sondern nur von einem
Gemetzel am Flusse, dem fast die ganze Armee zum Opfer fällt. Ganz anders
erzählt auch hier wieder Livius. Er — oder richtiger gesagt seine Quelle —
hat das patriotische Bedürfnis das Debacle vom Durchbruch der 10 000 bis zur
Vernichtung am Flusse mit Heldentaten auszuschmücken: plures deinde in omnes
partes eruptiones factae; et qui flumen petiere, aut gurgitibus absumpti sunt
aut inter cunctationem ingrediendi ab hostibus oppressi; qui passim per agros fuga
sparsi erant, alii vestigia cedentis sequentes agminis Placentiam contendere, aliis
timor höstium audaciam ingrediendi flumen fecit, transgressique in castra pervenerunt.
Hier werden also, wie Fuchs (S. 112) ganz richtig gesehen hat, außer dem großen
noch drei kleine Durchbrüche unterschieden: der erste nach dem Flusse hin, also
nach Osten, der zweite nach Placentia zu, also nach Norden, der dritte wohl nach
Süden. Nur die letzteren gelangen glücklich ins Lager. Du lieber Gott, was sollen
die armen, erschöpften Menschen noch alles fertig gebracht haben! Und was geschah
mit dem Gros? Darüber deckt Livius ganz den Schleier patriotischer Liebe.
Auf diese Darstellung hat nun Fuchs (S. 107 ff.) eine wunderliche Rekonstruktion
der letzten Schlachtphase gegründet. Das Gros — sagt er allen Ernstes — ist gar
nicht vernichtet worden. Als es bis zur Trebia zurückgedrängt war, kam ihm Scipio
mit dem praesidium castrorum zu Hilfe, indem er auf Flößen über den Fluß setzte.
Dieser Verstärkung gegenüber wagte Hannibal nicht, die Reste der Römer zum
Äußersten zu treiben, und zog sich ins Lager zurück. So wurde das Gros gerettet,
das dann in der Nacht auf denselben Flößen auf die rechte Seite der Trebia gebracht
wurde und mit Scipio nach Placentia zog. — Ein strammer Hannibal — das muß
man wirklich sagen — der den aufgelösten Resten des Feindes gegenüber nicht wagt,
zum letzten Streiche auszuholen, weil sie eine kleine Verstärkung bekommen haben,
und sich so um den ganzen Erfolg seines Sieges bringt! In Wahrheit steht weder
bei Livius (XXI 56 8, 9) etwas von einer solchen Aktion Scipios, noch ist sie mit
Polybios' ausdrücklicher Nachricht von der Vernichtung des Gros vereinbar. Die
Flöße bei Livius haben einen ganz anderen Zweck: sie sollen die Reste der Armee
Der zweite Punische Krieg bis Cannae.
durch Hunger, Kälte und Nässe erschöpfte Masse mochte noch etwa
20 000 Mann betragen, die von nahezu 40 000 Mann zu Fuß und zu
Roß umdrängt und umschwärmt wurden1).
Daß dabei von einem Durchbruche irgendwie nennenswerter Ab-
teilungen nicht mehr die Rede sein konnte, dürfte von vornherein klar
sein. Es ist denn auch in unserer besseren Überlieferung, bei Polybios,
keine Rede davon. Mißverständnis und patriotischer Übereifer der
römischen Überlieferung haben das erst in den Schlachtbericht hinein-
getragen, und neuere Darsteller sind dem mit Unrecht gefolgt2).
1) Daß auch die gesamte Reiterei jetzt zur Stelle war, geht außer der in der
vor. A. angezogenen Notiz auch aus Pol. III 74, 5 hervor, wo es von den 10000
Römern nach dem Durchbrnche heißt, sie seien nicht in die Schlacht oder ins Lager
zurückmarschiert vcfogcouevoi to rclrjd'os tG>v itztcswv.
2) Unmittelbar nach Erzählung des Durchbruches der 10 000 fährt Pol. III 74, 7
mit den schon angeführten Worten fort: twv 8t lotnüv ol nleioioi negi töv noraudv
tyd-ügrjoav vnö rs rßv d-rjo(o>v xai r&v Innecov. Hier ist also ganz sachgemäß
von weiteren Durchbrächen der Römer keine Rede mehr, sondern nur von einem
Gemetzel am Flusse, dem fast die ganze Armee zum Opfer fällt. Ganz anders
erzählt auch hier wieder Livius. Er — oder richtiger gesagt seine Quelle —
hat das patriotische Bedürfnis das Debacle vom Durchbruch der 10 000 bis zur
Vernichtung am Flusse mit Heldentaten auszuschmücken: plures deinde in omnes
partes eruptiones factae; et qui flumen petiere, aut gurgitibus absumpti sunt
aut inter cunctationem ingrediendi ab hostibus oppressi; qui passim per agros fuga
sparsi erant, alii vestigia cedentis sequentes agminis Placentiam contendere, aliis
timor höstium audaciam ingrediendi flumen fecit, transgressique in castra pervenerunt.
Hier werden also, wie Fuchs (S. 112) ganz richtig gesehen hat, außer dem großen
noch drei kleine Durchbrüche unterschieden: der erste nach dem Flusse hin, also
nach Osten, der zweite nach Placentia zu, also nach Norden, der dritte wohl nach
Süden. Nur die letzteren gelangen glücklich ins Lager. Du lieber Gott, was sollen
die armen, erschöpften Menschen noch alles fertig gebracht haben! Und was geschah
mit dem Gros? Darüber deckt Livius ganz den Schleier patriotischer Liebe.
Auf diese Darstellung hat nun Fuchs (S. 107 ff.) eine wunderliche Rekonstruktion
der letzten Schlachtphase gegründet. Das Gros — sagt er allen Ernstes — ist gar
nicht vernichtet worden. Als es bis zur Trebia zurückgedrängt war, kam ihm Scipio
mit dem praesidium castrorum zu Hilfe, indem er auf Flößen über den Fluß setzte.
Dieser Verstärkung gegenüber wagte Hannibal nicht, die Reste der Römer zum
Äußersten zu treiben, und zog sich ins Lager zurück. So wurde das Gros gerettet,
das dann in der Nacht auf denselben Flößen auf die rechte Seite der Trebia gebracht
wurde und mit Scipio nach Placentia zog. — Ein strammer Hannibal — das muß
man wirklich sagen — der den aufgelösten Resten des Feindes gegenüber nicht wagt,
zum letzten Streiche auszuholen, weil sie eine kleine Verstärkung bekommen haben,
und sich so um den ganzen Erfolg seines Sieges bringt! In Wahrheit steht weder
bei Livius (XXI 56 8, 9) etwas von einer solchen Aktion Scipios, noch ist sie mit
Polybios' ausdrücklicher Nachricht von der Vernichtung des Gros vereinbar. Die
Flöße bei Livius haben einen ganz anderen Zweck: sie sollen die Reste der Armee