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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 26.1915

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Marc, Franz: Im Fegefeuer des Krieges
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https://doi.org/10.11588/diglit.3871#0137

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Krieg sicherer als der Einzelne und spannte alle seine Nerven
nach ihm.

Kunst in solcher Wartezeit war nicht aktuell, Kunst
als Volkstat unzeitgemäß.

Das Volk ahnte, daß es erst durch den großen Krieg
gehen mußte, um sich ein neues Leben und neue Ideale
zu formen. Es behielt recht mit seinem Unwillen, in elfter
Stunde neue Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen
Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht.

Er ist schnell hereingebrochen und hat manche zarte
Saat zerstört.

Ich glaube nicht, daß viel von dem, was wir neuen
Maler in Deutschland an ungewohnten Kunstformen vor
dem Kriege geschaffen haben, Wurzel fassen konnte. Wir
werden von vorn anfangen müssen zu arbeiten; erst an uns
selber in der Schule dieses großen Krieges, dann an unserem
deutschen Volk. Denn wenn das große Aufatmen kommt,
wird der Deutsche auch wieder nach seiner Kunst fragen,
ohne die er in keiner reifen Zeit war.

Er war Bildner in der Gotik, Dichter und Musiker im
19. Jahrhundert und wird wieder Bildner im 20. Jahrhundert
sein. Wir Deutsche sind seit der Gotik formbildnerisch
unsagbar arm geworden; wir besorgten anderes für die
Welt; heute besorgen wir das Letzte: diesen entsetzlichen
Krieg. Wer ihn draußen miterlebt und das neue Leben
ahnt, das wir uns mit ihm erobern, der denkt wohl, daß
man den neuen Wein nicht in alte Schläuche faßt. Wir
werden das neue Jahrhundert mit unserem neuen form-
bildnerischen Willen durchsetzen.

WER DA HAT, DEM WIRD NOCH
GEGEBEN WERDEN

Wie viele Gedanken Christi sind heute noch ungewußt,
ungenutzt, verschwiegen, Jede Zeit hat ihren Christus, den
sie verdient, und nimmt so viel aus diesem unerschöpften
Born, als ihre Krüge fassen.

Der große Nazarener hat die Gesetze der Natur intuitiv
erfaßt. Seine bilderreiche Sprache hat neben unserem
neuen erkenntnistheoretischen Denken ihre Wucht nicht
verloren. Seine tiefsten Gedanken wandeln noch parallel
mit unserem Foisehen; wir hören noch immer das Murmeln
dieses lebendigen Quells neben uns.

In so wilden Tagen wie den unseren werden alle ur-
alten Fragen neu gestellt, manche toten, totgesagten Fragen
stehen auf aus ihren Gräbern. Alle großen Ereignisse der
Weltgeschichte sind große Gerichtstage für die menschliche
Erkenntnis. Die ehrwürdigsten Meinungen und Glaubens-
sätze werden neu gewogen. Was gestern galt, ist heute
verpaßt und abgetan. Nur die guten Dinge bleiben, die
echten, inhaltsschweren, wahren; sie gehen geläutert und
gestählt durch das Fegefeuer des Krieges.

Wir Europäer haben in jahrhundertlanger ernster, ge-
meinsamer Arbeit einen solchen echten — nach Menschen-
wissen echten, wahren Schatz gehoben, ein Erbgut, das
noch jeden Krieg überdauert hat und an dem kein Rost
nagt: die »exakten Wissenschaften«. Zum ersten und ein-
zigen Male ist dem menschlichen Geist das »Absolute« ge-
glückt: sich ein Reich zu schaffen, das »auch nicht von
dieser Welt« ist und doch alles, was Welt ist, fühlend und
ordnend durchdringt. Die Wissenschaften kennen keine
nationalen Schranken, die Politik hat keinen Raum in ihnen.
Alle modernen Menschen, alle guten Europäer stehen im
Bann und Bunde dieses Reiches.

Vestigio terrent! Wir können es nicht gutheißen, daß
dem Geiste dieses obersten europäischen Gewissens ent-

gegen einige deutsche Gelehrte mit gutem Namen etwas
unternommen haben, das in Europa wie ein Signal zum
Bannbruch wirken könnte: »sie verzichten in deutschem
Nationalgefühl auf die ihnen durch Auszeichnungen von
englischen Universitäten, Akademien und gelehrten Ge-
sellschaften erwiesenen Ehren und die damit verbundenen
Rechte«. Das ist nicht gut. Hier wird auf dem freien
Forum der Wissenschaft ein Zaun errichtet; er kann nicht
lange stehen; denn die Wissenschaft ist stärker, eine geistige
Macht, die sich ins Unendliche dehnt; aber der Versuch
ist eben darum nicht gut, weil er keine Zukunft in sich
trägt. Alle nationale Erregung unserer Tage kann ihn nicht
rechtfertigen.

Der Feind steht nicht dort, wohin der Pfeil abgesandt
wurde. Unser deutscher Kulturgeist und nationaler Impuls
muß in ganz anderer Richtung aktiv und aggressiv werden.

Soll der Krieg uns das bringen, was wir ersehnen und
das in einem Verhältnis zu unseren Opfern steht — der
Atem stockt vor dieser Riesengleichung —, so müssen
wir Deutsche nichts leidenschaftlicher meiden als die Enge
des Herzens und des nationalen Wollens. Sie verdürbe
uns alles. Wer hat, dem wird gegeben. Nur mit dieser
Devise werden wir auch geistig die Sieger bleiben und
die ersten Europäer sein. Der kommende Typ des Europäers
wird der deutsche Typ sein; aber zuvor muß der Deutsche
ein guter Europäer werden. Das ist er heute nicht immer
und überall.

Das Deutschtum wird nach diesem Kriege über alle
Grenzen schwülen. Wenn wir gesund und stark bleiben
und die Frucht unseres Sieges nicht verlieren wollen,
brauchen wir eine ungeheure Saugkraft und einen Lebens-
strom, der alles durchdringt, ohne Angst und Bedenken
vor dem Fremden, Neuen, das unsere Machtstellung in
Europa bringen wird. Wie früher einmal Frankreich das
Herz Europas war, wird es von uns an Deutschland sein,
wenn es sich nicht durch nationale Engherzigkeit um die
Frucht seiner Siege bringt. Das sollten die Unsern in der
Heimat bedenken. Wir, die wir im Felde stehen, atmen
eine freiere, geistigere Atmosphäre. Wir duellieren uns
mit dem Gegner; wir sehen nur ihn den Soldaten, vor
uns. Wir schlagen ihn, aber wir denken nicht daran, die
französische Kultur auszuschwefeln. Manche Nachricht,
die uns von daheim erreicht, riecht leider stark danach.
Hat man in unserer Heimat Bangen vor der Siegesbeute?
Denkt man, daß sie unverdaulich sein wird? Wir strömen
nicht über die Grenzen, um nachher eine chinesische Mauer
um unser Land zu ziehen. Wir sind reich und stark genug,
um im Kriege der Festungen und im Frieden des Zauns
zu entraten. »In geistigen Dingen dürfen wir nicht ängst-
licher, engherziger sein als in allem anderen. Auch in der
Kunst darf es nicht anders sein. Kannten wir doch auch
ehedem nie Furcht vor dem Fremden. Haben die maurisch-
französischen Einflüsse der deutschen Gotik geschadet?
Freuen wir uns nicht heute noch, wenn wir diesem gra-
ziösen Reichtum begegnen, den unsere alten Künstler zu
dem ihrigen gemacht haben? Der orientalische Einfluß von
der Gotik bis zur Renaissance ist wahrlich nicht auf die
Verlustliste der deutschen Kunst zu setzen. Unsere deut-
schen Bibeln sind darum nicht weniger deutsch.

So wird es auch an unserem Talent liegen, die von
Übergeistigung und Auflösung bedrohte Kunst der heutigen
Romanen unserer kommenden Kultur zu assimilieren —
nicht um sie zu erhalten, sondern um uns zu bereichern im
Bewußtsein unserer unverbrauchten Kraft und aus Freude
am Reichtum.

Kein fremder Reichtum darf uns fremd sein, wenn wir
reich bleiben wollen.

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