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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

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Heft 20 (2. Juliheft 1914)
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Avenarius, Ferdinand: Chaos?: An die Besucher der Kunstausstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0111

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lIahrg.27 Zweites Iuliheft 1914 Hest 20

Chaos?

An die Besucher der Kunstausstellungen

sind die Kunstausstellungen wieder „auf", und dieses Iahr an
^W^/mehr Orten- als je vorher. Wer die Zeit dazu hätte und seine Auf-
^ ^gabe gründlich nähme, der könnte den ganzen Sommer damit hin-
bringen, alle diese Wände voller Bilder zu „studieren". Iedenfalls führt
die Reisezeit jene Schar von Besuchern in die Ausstellungsräume, die
Vertreter der deutschen Kunstkäuferschaft und Vertreter jenes gebildeten
Standes sind, der in der Kunst einen Ausdruck der Zeitkultur sieht. Alle
diese Denkenden werden sich wieder einmal die Frage vorlegen: wo stehen
wir? Und ich fürchte, sehr viele werden sich kopfschüttelnd antworten: es
scheint, wir stehen überhaupt nicht mehr, sondern wir schaukeln im Chaos.
Lrklärlich ist solch eine Meinung sehr. Ist sie auch richtig?

Nehmen wir nun an, wir wandelten beispielsweise durch den Münchner
Glaspalast. Dreitausend tüchtige Bilder, dreihundert gute, dreißig vor-
treffliche, eine gewaltige Menge fleißiger Arbeit, ehrlichen Wollens, höchst
achtbaren und oft geradezu bewundernswerten Könnens. Wie wir von
Saal zu Saal schreiten, werden wir dessen froh gewahr . . . aber Lrotzdem:
wir fuchen. Nun finden wir noch das alte gute „Kunstvereinsgenre^, es
erzählt hübsch, aber was es erzählt, haben wir schon sehr oft gehört. Rechts
davon eine impressionistische Landschaft — aber Aufgaben, wie dies Bild
eine löst, sind nun schon so oft gelöst worden, daß uns der Gedanke
kommt: sollte das überhaupt nur Freude am Aufgabelösen gewesen sein,
was uns früher an solchen Bildern interessierte? Drüben eine Wand mit
„religiöser^ Kunst — um uns das empfinden zu lassen, was der Maler
gefühlt hat, brauchen wir aber seine Bemühung nicht erst. Wir haben
das schon, er erwärmt uns nicht. Und so wieder und wieder vor diesen
Bildern der verschiedensten Richtungen: wir kommen oft zur Verbeugung
vor den Künstlern, aber selten zum tzändedruck. Warum wohl nicht? Sehr
behindert unzweifelhaft die Massenansammlung von Künst, die schon als
solche Genußmöglichkeiten zerstört. Viele von diesen Bildern könnten
einzeln als Genossen im tzeim gute Freunde werden, bei denen man
jeden Zug im Gesicht lieb gewänne. tzier aber reden sie zu schnell nach-
einander, beinahe schon miteinander, stören sie sich. And doch: daran
allein kann's nicht liegen. Irrt uns die Erinnerung, daß uns frühere
Ausstellungen oft in weit höherem Grade bewegten? Die Bilder schädigten
sich doch damals kaum weniger, als man bei der Aufnahme sicher noch
weniger streng war und die tzängekommissionen noch bis dicht unter die
Decken hängten und henkten. Aber allerdings: damals brachte jede neue
Ausstellung irgend etwas, sei's von Leibl oder von Thoma, von Böcklin
oder von Uhde, von Liebermann oder von Klinger, von Lenbach oder von
Alax, von irgendwem heute Totem oder noch Lebendem, das uns zu Für

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