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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

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Heft 20 (2. Juliheft 1914)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0145

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Lose Blätter

Daul von Winterfelds „Deutsche Dichter des lateinischen

Mittelalters"*

^-^-ie eine Gestalt Wilhelm Raabes, so tritt uns der riesenhafte un»
^l^^wirsche Privatdozent und Professor Paul von Winterfeld in der
Lebensbeschreibung entgegen, mit der Hermann Reich, des Toten
bester Freund, wie tzoratio, die Sache seines tzamlet erklärt. Ein un«
zugänglicher Einsiedler, der bei einem großen Faß Kartoffelsalat und
erner voluminösen Schnapsflasche Tag und Nacht an einem wackligen Tische
über wurmzerfressene Folianten gebeugt dasitzt — so lebt Winterfeld in der
Phantasie seiner Kollegen. Rnd wenn die Schnapsflasche in Wirklichkeit
auch nur Fruchtlimonade enthält, so bleibt doch das Bild des weltentfernten
Gelehrten in seiner Arbeitshöhle auch bei Reich noch pittoresk genug. Aber
— was sich da dieser Welt verschließt mit sieben Siegeln, das ist eine weiche
herrliche Seele, die in einer anderen Welt von Wundern und Träumen
lebt. Und, wie es nicht anders kommen kann, diese Seele sucht eine Er«
gänzung, und der Professor verliebt sich in eine Dichterin, die er nie mit
Augen gesehen hat, deren Schicksal aber, aus ihren Versen heraus, sein
Inneres wie eine Geisterharfe mitschwingen ließ. Doch ach, wie weit
ist doch der Abstand des Innenlebens auch der einander angeborenen In-
dividuen! Er schickt der Dichterin in scheuer Werbung den Schlüssel,
der ihm das Personale — und das ist meist ein Weh — ihres Erlebens
erschloß. Auch unsere Seele ist eine „Symbiose", es leben darinnen
die mannigfachsten Individuen nebeneinander. Paul von Winterfeld erfuhr
das. In paradoxer Lebensgemeinschaft mit der Dichterin lebte in der
Seele von Winterfeldts Heldin — eine höhere Tochter. D ie antwortete ihm.
Die hatte nichts erlebt von dem, was in ihren Gedichten zitterte, sie hattesich
all das nur so „ungefähr gedacht". — Vielleicht war weibliche Schutzbedürf-
tigkeit der Rerv in ihrer tzaltung. In der Tat, wie konnte sie darauf
kommen, daß es so seltene Möglichkeiten in der Menschennatur geben
könne — wenn schon es einmal einen Winterfeld gab, den der große
Friedrich den „Seelenmenschen^ nannte; sie sah nur Reugier als das
Motiv an, das den „Professor" sich ihr nahen ließ. Sie weist ihn ab
und spricht damit das Urteil über den Seelenmenschen. Die Schwindsucht
als Rachrichter macht dann schnelle Arbeit. . . . „Eines Morgens fand
man ihn tot im Bette. Ich sah ihn zum letzten Male auf der Toten-
bahre. Alles, was ihn im Leben entstellt, alles Zyklopenhafte, Rnge-
schlachte war von ihm gewichen; mächtig trat seine hochgewölbte, schöne
Stirne hervor; die Nase war noch schlanker und feiner wie im Leben.
Er sah aus wie ein gefallener tzeld der Sage mit einem stolzen trotzigen,
fast verächtlichen Zug um den Mund."

Was nun die tzerausgabe der Gedichte selbst angeht, so hat Reich
sein Amt eines Vormundes der geistigen Kinder Winterfelds — dies schöne
platonische Bild zu gebrauchen — treulich versehen. Eine Linführung
m die deutschen Dichter des lateinischen Mittelalters, die verständnisvolle

^ Die Äbersetzungen erschienen, herausgegeben von Hermann Reich, im Verlag
bon C. H. Beck, München. Preis in Pappband 8.50 M., in Halbpergament M.
 
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