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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1914)
DOI Artikel:
Walzel, Otto: Impressionismus und ästhetische Rubriken
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0116

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Zmpressionismus und ästhetische Nubriken

egen wissenschaftliche Betrachtung von Kunstwerken wird oft der Vor-
F^?^wurf erhoben, sie begnüge sich, das einzelne Kunstwerk in irgendeine
V^-^Rubrik einzuordnen; und dann sei das Kunstwerk für sie erledigt.
Ich sage wissenschaftliche Betrachtung; ich könnte auch sagen: denkende.
Mit Absicht nreide ich das Wort: kritische Betrachtung; denn es erweckt
den Nebengeschrnack splitterrichterlicher Nörgelei.

Wenn für den wissenschaftlichen Betrachter ein Werk, nachdern er es
einer Gruppe verwandter Erscheinungen eingeordnet hat, für erledigt gilt,
so verzichtet er auf Wissenschaftlichkeit. Denn Wesen der Wissenschaft ist,
daß sie niemals der Betrachtung ein Ende setzt. Für die Wissenschaft
ist keine Frage je endgültig beantwortet. Doch da ein wissenschaftlicher
Betrachter irren und sich selbst untreu werden kann, so mag es vorkommen,
daß er wirklich tzalt macht, sobald er das Kunstwerk einer Rubrik zuge--
wiesen hat. Ia, vielleicht widerfährt diese Entgleisung gerade bei der
Charakteristik von dichterischen Schöpfungen, von künstlerischen überhaupt,
manchem recht oft. Mindestens wenn er es eilig hat und in wenigen Worten
sich aussprechen muß! Er meint es dann wohl gar nicht so böse und
nimmt an, daß sein Leser oder Iuhörer wissen müsse, wie nur Eile und
Mangel an Raum und Zeit statt eindringlicherer Betrachtung eine Rubri-
zierung habe eintreten lassen.

Mißbrauch oder auch nur ungeschickte Anwendung eines Werkzeuges
beweist noch nichts gegen den Wert des Werkzeugs. Gleichwohl glauben
viele, sich als besonders feinfühlig und künstlerisch geartet zu bewähren,
wenn sie gegen jeden Versuch, das Lypische einer Reihe von Kunstwerken
festzustellen, so kräftig eifern, als ob dieser Versuch das Kunstwerk von
vornherein vergewaltigte. Getrost darf ihnen zugestanden werden, daß ein
Kunstwerk als Ganzes nur gefühlsmäßig nacherlebt werden kann. Dieses
Nacherleben ist meist noch gemeint, wenn von „Einfühlung", „Verstehen^,
„Begreifen^ die Rede ist. Natürlich beschränkt sich das Nacherleben nicht
auf den Inhalt eines Kunstwerks. So unendlich schwer es vielen wird,
auch nur den Inhalt einer Dichtung in sich dergestalt aufzunehmen,
wie der Dichter ihn gemeint hat, so gehört zum Nacherleben und zu dessen
Forderungen auch noch eine wohlausgebildete Fähigkeit, die Form des
Kunstwerks mitzuempfinden.

Ganz und gar nicht selbstverständlich ist, daß der Nacherleber auch
befähigt sei, alles nachzuerleben, was an Nacherlebenswertem im Kunstwerk
vorhanden ist. Daher ist es eine wichtige Aufgabe, diese Fähigkeit zu
schulen und sich schulen zu lassen. Wer einmal zu solcher Erkenntnis
vorgedrungen ist, dem erscheint es wie eine schlimme Unzulänglichkeit,
wie ein Armutszeugnis, das er sich selbst ausstellen muß, wenn ihm
ein wesentlicher Zug künstlerischer Schöpfungen nicht aufgeht, wenn er
ihn nicht nacherlebt hat, wenn er von anderen sich auf ihn muß hinweisen
lassen.

Die Fähigkeit künstlerischen Nacherlebens wird durch unermüdliche und
immer wiederholte Betrachtung von Kunstwerken gefördert. Indes bleibt
auch der emsigste Betrachter, der seiner gesteigerten Fähigkeit, Künstlerisches
am Kunstwerk zu sehen, sich mehr und mehr freut, ungewiß, ob andere
nicht noch weiter vorgedrungen und dem Kunstwerk näher gekommen sind,
so lange er bei unausgesprochenen oder unaussprechlichen Gefühlen stehen

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