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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

DOI issue:
Heft 21 (1. Augustheft 1914)
DOI article:
Koralnik, Abraham: Der kritische Mensch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0230

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Der kritische Mensch

ir sind heute allesamt Kritiker. Hat man einmal Deutschland als
d V HLand der Dichter und Denker genannt, so könnte man heute die Be-

zeichnung variieren. Das Land der Kritiker sollte man Deutschland
nunmehr nennen. Wer kritisiert da nicht? Wer urteilt da nicht? Wer
wirft sich da nicht zum Richter über das Schaffen andrer auf? Stehen
denn nicht die Spalten der Zeitungen frei? Ist denn die Sprache umsonst
durch alle Hochöfen des Denkens, durch alle Gluten des leidenschaftlichen,
heißen Lebens hindurchgegangen? Sollen denn die fertigen Begrifse, die
geprägten Phrasen, die beinahe vergegenständlichten Gedanken vermodern?
Und es wird gehämmert und gezimmert und geschustert. Kaum erscheint
ein Werk vor der Öffentlichkeit, so wird es bereits von dem hundert«
armigen Rngetüm, der Kritik, umtastet, umwunden und hin und her gezerrt.
Kein Wunder fürwahr! Tausend Mittelbare und ein linmittelbarer, Lausend
Nachbeter und ein Eigener, eine Legion von Mittelmäßigkeiten und ein
einziger tzervorragender. Wer ist heutzutage kein Kritiker?

Aber das geistige Leben geht schließlich denselben Weg wie das wirt-
schaftliche — zur Ausschaltung der Zwischenstufen, der Mittelbarkeiten. Die
Wirtschaft strebt nach der möglichsten Okonomie — und die ist Konzen-
tration der Arbeitskräfte mit Beseitigung der Zwischenwände zwischen
den Produzierenden und den Verbrauchenden. Die Demokratie geht dahin,
die Befehlenden und die Gehorchenden miteinander zu verschmelzen — und
das geistige Schaffen verfolgt dieselbe Bahn, bewegt sich in derselben
Richtung. Die Aberwucherung der Kleinkrämer des Geistes, der Zuträger,
Zwischenhändler, Vermittler, der Spekulanten mit den Ideen und Schöp-
fungen der Künstler — kurz der Kritiker, hat allmählich die Erkenntnis
reifen lassen, daß hier etwas faul sei, hat ein allgemeines Mißtrauen
gegen die Kritik hervorgerufen. And das ist nicht gerade nur die Er-
scheinung letzten Datums. Goethes und Grillparzers Ansichten über die
Kritiker sind bekannt — und nichts weniger als schmeichelhaft. Böcklin
hat eine grausame Kritik der Kritiker gegeben — das ist seine bekannte
„Maske" des Kritikers, des Allesbesserwissers mit dem Pedantengesichte,
ins Satyrhafte verzerrt. And gerade weil heutzutage die Kritik das
vorwiegende Element der Kultur geworden ist, ist die Frage nach dem
Wert oder Unwert der Kritik gebieterisch aufgetreten. In Deutschland
stärker als irgendwo. Die Frage: was ist Kritik?

Aber die Fragen nach dem „Wesen" fördern uns nicht sehr. Denn
das „Wesen" ist nichts als die Summe der einzelnen Merkmale, unter
einem Einheits-Gesichtspunkt aufgefaßt. Schon Kant, dem man doch sicher-
lich keine Vorliebe für die beschreibende Methode vorwerfen kann, hat
es in bezug auf die abstrakteste aller Gedankengebilde, die Philosophie,
zugestanden. Er weist ihr — der reinen Philosophie — den ersten Platz
in der Architektonik der reinen Vernunft an, gibt aber zu, daß es eigent-
lich am letzten Ende nur auf den Philosophen ankommt. Nicht Kunst,
nicht Philosophie soll und kann definiert werden, sondern der Künstler,
der Denker. Wie ist die Psyche des Menschen gestaltet, der schöpferisch
wirkt? Welche sind die Wege, die zu dieser oder jener Tat führen? Diese
Frage ist wichtiger, fruchtbringender als die schematische Frage nach dem
„Wesen". And deshalb ist für mich nicht die Kritik, sondern der Kritiker,
der „kritische Mensch" das Problem.
 
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