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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

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Heft 23 (1. Septemberheft 1914)
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Avenarius, Ferdinand: Wie groß ist die Zeit!
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Stapel, Wilhelm: Unsre Vaterlands-Lieder
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0382

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durchmachen, des Kräftesammelns, der Willenszucht und des Gedankenwachs-
tums. Ansre Feinde würden zu uns kommen, und unser Geist würde sie
durchdringen. Die deutsche Produktivität würde nicht minder germani-
sieren, als jetzt. Vielleicht, daß unser Name nebensächlicher klänge, unser
Wesen würde die Welt erobern. Denn es sind keine Völker da, die so
schöpferisch wären, wie wir. „Uns kann nix geschehn." Aber zehnmal
wahrscheinlicher, als daß uns nur „nix geschieht", ist: daß mit diesen
Tagen die neue Germanenzeit beginnt. A

Mnsre Vaterlands-Lieder

ethischen Rechtfertigung des Krieges wird oft auf das Iahr
^^hingewiesen, denn damals seien erst durch den Krieg die Tugenden
^Ides Volkes recht erweckt worden. Aber auch die Auffassung läßt
sich verteidigen, daß damals erst die sittlichen Eigenschaften des Volkes den
Krieg erweckt Haben. Iedenfalls haben erst sie ihm gute Aussichten ge-
geben. Die Weltgeschichte kann nur wenigen Kriegen nachrühmen, daß sie
mit einem so starken Bewußtsein von sittlicher Notwendigkeit begonnen
und durchgeführt wurden. Man spürt es aus den Briefen und Tage-
büchern jener Zeit heraus, wie die Menschen die Iähne zusammenbissen:
sie sehnen sich nach Frieden, aber sie wissen: erst müssen sie sich die
Freiheit erkämpfen. Wenn sie frei sind, werden sie sicher auch Frieden
haben. Von der Freiheit erhoffen sie alles Gute; denn der gute
Wille gilt ihnen überall als selbstverständlich, man muß ihn nur walten
lassen. Das Elend, das mit dem Folgenmüssen für fremde, napoleonische
Zwecke verbunden war, hatte der großen Lehre Kants und Fichtes von der
Selbstbestimmung der Menschen und der Völker einen fruchtbaren Boden
geschaffen. Auch dem einfachsten Mann schien es dadurch klar, was Frei-
heit bedeute; das sittliche Empfinden im Volk sammelte sich geradezu in
ein mächtiges allgemeines Verlangen vor allem nach Freiheit.

So erklärt sich auch das starke ethische Pathos in den patriotischen
Liedern jener Zeit, das uns so eigentümlich tief berührt. In der gesamten
deutschen Liederdichtung vorher findet sich nichts dergleichen. Da wird nur
der einzelne Kriegsheld, etwa Friedrich der Große, oder es werden die
Landsleute im Gegensatz zu andern Völkern gefeiert. Das frei sich aus-
wirkende deutsche Volkstum wird erst in der napoleonischen Zeit als
sittliche Macht empfunden. Das Gefühl dafür findet sich auch nicht, wie
wir ausdrücklich bemerken wollen, in den eigentlichen „Volksliedern" der
Befreiungszeit. Nicht in jenen Liedern, die in den Negimentern ent-
standen und von Soldaten hier und da gesungen wurden. Die Phantasie
des kämpfenden Landwehrmannes ist erfüllt von den einzelnen Schlachten,
von den Heerführern, die auf dem tzügel halten oder auf dem Wege an
der jubelnden Mannschaft vorüberreiten. And nicht am wenigsten von dem
großen, verhaßten Gegner, dem Napoleon, oder, wie er im Plattdeutschen
genannt wird, dem Näppel. Diese sind Gegenstand des Volksliedes im
engeren Sinn. Aber in den „Kunstliedern" der Zeit finden die sittlichen
Ideen einen Ausdruck von solcher Gewalt, daß er uns heute noch un-
mittelbar bezwingt. So verschieden die einzelnen Dichter ihrer Natur nach
sind, ob kernig und mannhaft, ob schwärmerisch und weich, ob jugendlich
und feurig, in einem ist ihre Dichtung gleich: nirgends Dynastenverherr-

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