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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

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Heft 20 (2. Juliheft 1914)
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Avenarius, Ferdinand: Chaos?: An die Besucher der Kunstausstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0115

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liegen ganz geradeaus auf der kunsthistorischen Linie, sie mutzten nach
dem Impressionismus kommen. Sie sind nicht erstaunlicher, als seinerzeit
der Impressionismus war, den man gerade so cruslachte und verrückt
schalt. Wieviel sich davon durchsetzt, ist freilich eine andre Frage, denn
an Genies, ja an denen fehlt's. Aber Chaos? Vorläufig ist nicht
einmal ein Erdbeben da. Viel wahrscheinlicher: all das verläuft im Sande.

Wir andern aber, müssen wir denn überhaupt urteilen? Rns Mcht-
nralern tut, meine ich, not: datz wir uns wieder abgewöhnen, was uns
die Fachleute angewöhnt Haben: Kunstwerke vor allem, sagen wir einmal:
auf ihren Fachwert hin, auf ihre kunst geschichtliche Stellung, an-
zusehn. Für uns kommt es doch wohl darauf an, was ein Werk uns
gibt, für jeden Einzelnen darauf, was es ihm gibt. Mcht darauf aller-
dings, was es ihm im ersten Augenblick gibt, denn das kann sehr leicht
Reiz der Oberfläche sein. Aber darauf, womit es ihn „sättigt und nährt",
was sich vielleicht erst nach gemächlichem Lntfernen von allerlei tzülsen
zeigt. Sehr möglich, datz wir von solcher uns bekömmlicher Speise bei
Malern finden, die den nur historisch Eingestellten zurzeit als altmodisch
erscheinen, wie der immer noch lebendige Ludwig Mchter oder wie Arnold
Böcklin oder wie tzans Lhoma oder wie das einzige „neue Genie" im
Münchner Glaspalast, der tote Albert Welti, aus dessen Wandbildern
das schweizerische Deutschtum mit so eindringlicher Innerlichkeit und aus
dessen halbem tzundert von gezeichnetem und gemaltem Kleinzeug ein
so farbenreicher Lichtquell von Phantasien sprudelt, wie München lange
keine gesehn. Wir sind nicht verpflichtet, uns die Köpfe der Maler
und der Kritiker darüber zu zerbrechen, wie die „kunsthistorische Linie^
vielleicht weiter laufen kann. Nur was wir mit eigenen Augen
aus den Dingen herausheben, gewinnen wir. Werden wir zu Entdeckern,
wenn auch nur ein jeder zum Entdecker von Werten für ihn, den Einzelnen!
Ieder kann's werden, der das Selbersuchen kann — oder lernt. Ieder,
der zu diesem Zwecke zustande bringt, die sein Ohr umschwirrenden Theorien
abzuwehren wie Mücken, bevor sie stechen. Rnd der sich gleichzeitig fest
zu machen versteht gegen die Geringschätzung der Feinfeinen, die Lecker«
bissen für ihren Gaumen für die allein erlaubten Speisen für alle
halten. Wieviel weiter wären wir im Kunstbetrieb, wenn unser Volk
endlich wieder zur Kunst in unmittelb arem Verhältnis stände! Aber
kein tzochmut gegen die Künstler dabei, tzerr Publikus, auch wenn Sie die
nicht mögen — denn Ihre tzerren Ahnen, Herr Publikus, haben mit ihrem
Auslachen seit Iahrhunderten schon recht oft vorbeigelacht. Freilich, der
Snob ist auch nie gescheiter gewesen, den jede Wouveauts als solche aus
dem tzäuschen bringt — wenn Feinfein und Iedermann sich streiten, so hält
uran's am besten mit Busch: „Der Weise schweigt und räuspert sich." Wobei
auch das Näuspern nicht vernehmlich zu geschehen braucht. Denn die
etwa Angeräusperten, diese jungen Künstler, o Publice, sind wo sie irren,
immerhin Suchende. Und wer weitz, ob nicht einige davon doch noch
was finden. A

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