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Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

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Heft 13 (1. Aprilheft 1915)
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Stolterfoth, ...: Bismarcks Testament
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https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0025

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Moral, die wie in einem gnten Konto mit festen Preisen die einzelnen
tzandlungen bucht und verrechnet.

Nach dieser Art Moral würde das, was wir als die größte Tat Bis-
marcks bezeichnet haben, vielmehr umgekehrt minderwertig sein gegen-
über dem Rachebedürfnis oder, moralisch ausgedrückt, der Gerechtigkeits-
ethik der Gegner Bismarcks. War es moralisch richtig, Hessen, Hannover
und Frankfurt ganz einzuschlucken, die andern Staaten völlig zu schonen?
Ist das nicht eine sehr ungerechte Verteilung der Bußzahlungen? Bis--
marcks höhere Sittlichkeit tat das, was nötig war, um die Versöhnung
herbeizuführen.

Es ist nun Höchst merkwürdig, wie das, was wir als höchste Sittlichkeit
im Verhalten Bismarcks charakterisiert haben, zugleich einem der an-
erkanntesten Grundsätze Machiavellis entspricht. „Denn es ist wohl zu
merken," sagt er gleich im 3. Kapitel des Fürstenspiegels (deutsch, Iena,
Diederichs, S. 7), „daß die Menschen entweder gütlich behandelt oder
vernichtet werden müssen. Ist die Unbill gering, so rächen sie sich, ist
sie groß, können sie sich nicht rächen."

Es ist ein sehr eigentümliches Beispiel dafür, wie eine Handlung, die
aus ihren sachlichen Gesetzen heraus richtig ist, alle Anwartschaft daraus
hat, auch sittlich richtig zu sein. Es ist eben alles organisch auf Erden
und am Gipfel der Pyramide stoßen alle Linien zusammen.

Politik und Ethik gehen auseinander, wo man nicht weit genug sieht,
eine kurzsichtige Politik reimt sich nicht mit einer hochstehenden Lthik,
noch eine kleinliche Kontomoral mit großer Politik.

G

Will man, um Beispiele aus heutiger Zeit zu nehmen, das englische
Vorgehen sittlich werten, so muß man vor allem das meiste von dem
weglassen, was jetzt an Vorwürfen gegen englische Perfidie die Zei-
tungen füllt. Das sind meistenteils politische Handlungen, die sachlich
aus ihren eignen Gesetzen heraus gesehen werden wollen.

Höchstens — könnte man sagen — um die Engländer mit ihren eigenen
Stückmoral zu widerlegen, wäre es gut, in eine moralische Betrachtung
ihrer einzelnen Kriegshandlungen politischer Natur einzutreten. Nur däß
auf dem Standpunkt dieser Moral die Lngländer immer den Vorteil aus-
deuten werden, den ihre Moralpolitik sich verschasft hat: nämlich vorweg
sagen zu können, daß, wer das Völkerrecht verletzt habe, keinen Anspruch
daraus habe, daß es ihm gegenüber gehalten werde.

Wollte man dawider geltend machen, daß die Bedeutung des Völker-
rechts gar nicht in der Kodifizierung einzelner Verbote beruhe, sondern
in den allgemeinen Richtlinien, und daß man den Buchstaben eines Ge-
setzes erfüllen und doch den Geist verletzen könne und umgekehrt, so wäre
das eine Berufung auf eine höhere Sittlichkeit als dieser Spielart von
Moral geläufig und verständlich ist. Ls wäre für unseren Reichskanzler
offenbar ein Leichtes gewesen, den Neutralitätsbruch in Bezug auf Bel-
gien mit englischer Moral zuzukleistern — unsre Zeitungen haben das
auch längst nachgeholt. Er hat das aus einem höheren Sittlichkeitsgefühl
heraus verschmäht, und wir haben ihm das gedankt, obwohl es realpoli-
tisch betrachtet vielleicht nicht geschickt war.

Man kann für die höhere sittliche Beurteilung solche unterscheiden.
die von innen her gerade gewachsen sind, von solchen, die von innen aus
krumm sind. Die Geradegewachsenen brauchen das Gesetz eigentlich nicht,

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