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Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

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Heft 15 (1. Maiheft 1915)
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Düsel, Friedrich: Kriegs- und Friedensstücke
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https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0122

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diese beiden Befürchtungen erfüllt, wir hätten die Zerrüttung unsrer Dra-
matik schon während des Krieges gehabt, die wir in den siebziger Iahren
erst nach dem Frieden erlebten.

Gott sei Dank kam es dahin nicht. Die besseren Bühnen setzten der
Flut der schnellfertigen Kriegsstücke von vorneherein einen Damm ent--
gegen, der auch die gedankenloseren allmählich zur Verantwortung rief,
und aus den verschlossenen Quellen unsrer klassischen und nachklassichen
Dramatik strömten, als die Not ihren Riegel sprengte, so viele srisch ver--
jüngte Werke auf uns zu, daß wir es mit nichten zu machen brauchten wie
der biblische Hochzeitsvater, der seine Boten auf die Landstraßen und
hinter die Zäune schickte. „Was ist das Herrliche der Vorzeit,^ hatte einst
Goethe geklagt, „wenn sich das Nichtige des Tags ausdrängen will, weil
es für diesmal das Privilegium hat, gegenwärtig und lebendig zu sein!"
Unsre Rüstung war stark genug, dem Ansturm dieses nichtigen Neuen, den
Versuchungen jenes stumpf und dumpf gewordenen Alten standzuhalten;
und — von einigen wenigen Mißgrifsen, wie Gutzkows „Zopf und Schwert"
urrd Kotzebues „Deutschen Kleinstädtern", abgesehen — die wiedererweckten
Werke, auch wenn sie, wie Schillers „Wallenstein" und Hebbels „Geno--
veva^, sich eher von der Gegenwart zu entfernen als sich ihr zu nähern
schienen, antworteten unserm willigen Ohr mit Tönen, die nur ein ver-
tieftes und geläutertes Echo unsres eignen neuen Erlebnisses waren.

Mit dieser sichern Würde unsres Spielplans wuchs seine Freiheit.
Anfangs glaubte er es noch ohne mehr oder weniger offensichtliche „Be-
ziehungen" nicht tun zu können. Kleists „Hermannsschlacht" und „Hom-
burg^, Lessings „Minna" und Otto Ludwigs „Torgauer Heide" — viel
weiter wagte man sich nicht. Ein paar Monate später, und man faßte
neben den Zerstreuungsstücken und Sorgenbrechern, die die brennende
Wunde des Augenblicks mit dem linden Balsam einer altmodischen Ge-
ruhsamkeit zu heilen suchten — Kotzebue, Raimund und Bauernfeld hießen
die Apotheker — auch schon wieder Mut zu Schiller, Hebbel, Shakespere
und Strindberg. Ietzt nun scheinen wir an der Schwelle eines neuen
Mutes angelangt zu sein. Das Königliche Schauspielhaus führt die
„Antigone" des Sophokles auf, das Künftlertheater eröffnet die Zeit
seiner neuen Leitung (Viktor Barnowsky) mit Goethes „Egmont^, das
Deutsche Theater stellt an die Spitze seines Hauptmann-Zyklus das derbe
Scherzspiel von SchluckundIau. Es scheinen, wenn man auf Welt-
anschauung, Stil und Form dieser drei Werke blickt, Klüfte zwischen ihnen
zu liegen, viel weiter und unüberwindlicher als die Iahrhunderte, die sie
voneinander trennen. Nnd doch bringt eine geheimnisvolle Kraft unsres
gegenwärtigen Zeitgefühls das Wunder zuwege, sie in ihrer Wirkung
auf uns nahe aneinander zu rücken. Diese Kraft hat ihre Wurzeln in der
Sehnsucht, uns von dem eisernen Band dieses gewaltigen Krieges zu lösen,
uns über seine schwer lastende Wirklichkeit zu erheben, ohne doch seinem
Geiste und seinem heiligen Sinn untreu zu werden, ohne seinem heißen
Gemeinschaftserleben feige zu entfliehen.

Am mächtigsten in dieser lösenden Gewalt der Erhebung hat sich die
antike Tragödie gezeigt. And das, obwohl ihr tragischer Widerstreit
zwischen menschlichen und göttlichen Satzungen, zwischen der mit ehernen
Gründen gewappneten Staatsraison und den unergründlichen, in nackter
Anschuld einhergehenden Forderungen des Herzens dem gegenwärtigen
Gefühlsverhältnis zwischen Zucht und Gemüt keineswegs parallel läuft.

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