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Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

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Heft 16 (2. Maiheft 1915)
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Bonus, Arthur: [Die deutschen Kirchen zu Pfingsten], 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0159

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Aber mehr: Luther gehört seiner Frömmigkeit nach in der entscheiden-
den Zeit seines Lebens einfach in die deutsche Mystik, die den beiden
Konsessionen in Deutschland gemeinsamer Boden ist. Seine Tat ist in
Wirklichkeit die Erneuerung der Gesamtchristenheit gewesen in Deutsch--
land und sogar über seine Grenzen hinaus. Auch der srömmste Katholik,
wenn er die Renaissancebewegung und die Stellung des Papsttums in
ihr studiert hat, weiß, daß der mittelalterliche Idealismus zusammen--
gesunken war. Der naive Materialismus, dem er gewichen war, begeisterte
sich für die Aussicht, die Ideale, die ihm leergeworden waren, als Züge-
lungsmittel für die Massen zu gebrauchen. Er, der das zynische Wort
prägte von dem „gewinnbringenden Märchen von Christus". Ieder, der
die Geschichte jener Zeit kennt, darf wissen, daß Luther die Resormation
nicht gegen den Katholizismus machte, sondern gegen den Materialis-
mus. Das Papsttum, das unsere Katholiken meinen, verdankt auf dem
ganzen Erdenrund keinem Menschen so viel als Luther. Lr hat es ge-
rettet. Er hat das deutsche Ernstnehmen der inneriichen Wurzeln der Welt
durchgesetzt, nicht nur für die, welche ihm folgten, — für das ganze
Volk, auch für seine Feinde.

T

Die besten Beweise für geschichtliche Zusammenhänge sind zumeist ge-
wisse Instinktbeweise. Nicht wunderlich: die Geschichte wohnt, soweit sie
wirklich ist, in den Instinkten der Menschen. Ich bringe den Beweis,
den ich vorhabe, aber noch aus einem besonderen in unserer Zeit ge-
legenen Grunde. NLmlich deshalb, weil unsere Gegner ihn sehr törichter-
weise gegen uns zu wenden suchen.

Es handelt sich um Nietzsche. Er hat den materialistischen Immoralis-
mus der „Renaissance" in deutscher Sprache zu erneuern gesucht. Aber
sofern Nietzsche charakteristisch ist für unsere Volksart, ist er es gerade
durch die tragische Leidenschaft, mit der er das, was er einmal ergriffen
hatte, ernst nahm. Sein schwerer moralischer Sinn empfand an der
romanischen Renaissance jenes absolute Nichternstnehmen der Ideale wie
eine Befreiung. Er nahm das Verbot des Ernstnehmens als sittliche
Wahrheit ernst und unternahm es, eine schwere und düstere Weltanschau-
ung darauf aufzubauen. An der Unmöglichkeit dieser Aufgabe und an
dem einmütigen Widerspruch seines Volkes ist er zugrunde gegangen. Er
hat in immer wiederholter Wendung sein Lebenswerk als einen großen
Widerspruch bezeichnet, ein Veto gegen die deutsche Kultur. Lr haßte
den deutschen Gottesglauben, er haßte Luther als den, der durch schweres
Ernstnehmen seine geliebte Renaissance untergrub und verdarb, er haßte
die deutsche Entwicklung seit j870, er haßte unsern Sozialismus, er haßte
unsere Moral. Der Haß macht scharfsichtig. Nietzsche sagte nns zuviel
wertvolle Wahrheiten, als daß ein Volk, das so viel Selbstkritik in sich
hat, wie das unsrige, sich ihm nicht zu größtem Dank verpflichtet fühlen
sollte. Sein Ideal lehnen wir als im Widerspruch gegen unsern Volks-
geist aufgerichtet und aus dem Widerspruch gegen ihn geboren, weit
von uns ab. Es ist aus der sittlichen Stimmung jenes aristokratischen

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