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Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

DOI issue:
Heft 16 (2. Maiheft 1915)
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Schumann, Wolfgang: Bücher der Zeit, 3: H. S. Chamberlain und A. von Peez
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https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0168

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wirrung, die tiefgreifende Verführung der Leser zu Oberflächlichkeit, Phrase
und Leichtfertigkeit geringfügig erschiene, die sie nebenbei stiften. Wer die
unerhörten Leiftungen der Deutfchen von heute mit voller Aufrichtigkeit
würdigt, wird leicht sehen, daß es die vollkommene Sachlichkeit, der schlichte
Wirklichkeitsinn, die phrasenfreie Tatkraft sind, die hinter ihnen stehen,
das Sich-nichts-vormachen und Sich-nichts-vormachen-lassen. Vor solcher
Gesinnung zerslattern Bücher wie die Chamberlains.

Ieden Leser Chamberlains möchte ich bitten, einmal unmittelbar nach
seinem Buch die ?9seitige Schrist „Lngland und der Kontinent" von
Alexander von Peez in die Hand zu nehmen*. Dieser ausgezeich-
nete Gelehrte war einer der vortrefslichsten Kenner der englischen Politik
aller Zeiten. Und in seinem kleinen Schristchen wird man unmittelbar
an alle Grundtatsachen herangesührt, welche politisch und soziologisch die
heutigen Vorgänge bestimmten; da hört man nichts von Phrasen wie
Chamberlains Auseinandersetzungen über die „Augenblicke, wo Geschichte
und Charakter sich schneiden", man sieht fast nur wirkliche Vorgänge und
liest bezeichnende Zitate. Aber wie ist England, wie ist die Weltgeschichte
hier „geschaut" mit dem klaren Auge des unbestechlichen Wirklichkeitsinnes,
wie ist Beweisstück an Beweisstück gesügt, so daß man zuletzt innerlichst be-
trofsen vor dem Schlußsatz steht: „Brechen Feindseligkeiten aus, so wird
über die eigentliche Quelle nach all dem Gesagten und Lrlebten kein
Zweifel sein." Und das hat dieser wahrhaft prophetische Gelehrte, dessen
Prophetie freilich sozusagen das Ergebnis seiner Lebens- und Denkarbeit
war, im Iahre B09 geschrieben! Entgegen Chamberlains kulturphilosophi»
schem Dilettantismus weiß Peez, der leider i9s2 verstarb, aber auch die
Kraft Lnglands anschaulich zu machen; Gott sei Dank neigen wir noch
nicht zu der Meinung Chamberlains: „der einzelne Lngländer ist tapser
und tüchtig, der Staat »Lngland« ist morsch bis auf die Knochen; man
fasse nur fest zu". Peez lehrt aufs geschickteste sehen, wie dieser Staat
zwar aus andrer Grundlage als der unsre, aber allerdings in größter
Kraft dasteht. Von da aus gewinnt dann auch die Frage der „Freiheit",
die Lhamberlain vergebens mit philosophieähnlichen Erörterungen und
schiesen Beispielen zu lösen trachtet, ihr rechtes Bild. Peez führt Ger-
vinus' Satz an: „Kein Staat der Neuzeit ist mehr als Lngland im Sinne
und Begriffe des Altertums gefügt, wo der Einzelne sür den Staat lebte
und ihm seinen Einzelwillen und sein besonderes Interesse zum Opser
brachte." Hieraus entwickelt Peez folgerichtig das Wesen des englischen
Staatsbürgerbewußtseins, und wie anders sieht es diesem sachlichen For-
scher aus als Chamberlain! Es ist an diesem wie an so vielen andern
Punkten, der Weg von Chamberlain zu Peez ist der aus schönem Nebel
in rauhe, aber klare Luft.

Trotzdem stehe ich natürlich nicht an, entsprechend meiner Linleitung
jedem, der England kennen lernen will, ein viel tieferes Eindringen zu
raten, als es Peezens Aussatz ermöglicht. Leider weist Peez nicht die
Wege dazu, seinem Heftchen fehlen die Literaturangaben, und nicht ein-
mal die Herausgeber der neuen Auslage sind genannt. Aber daß mir
Peez als der weitaus „deutschere^ und „echtere", als der im tiefsten Sinne
sörderlichere Schriststeller erscheint, möchte ich allerdings betonen.

Wolfgang Schumann

* Verlag C. Fromme, Wien und Leipzig. BiO
 
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