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Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1915)
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Schmidt, Leopold: Betrachtungen eines Opernbesuchers
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https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0171

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Möglichkeit der Umtextierung, bis sie beim Drama, dem echten und wahren,
gleich Null wird. Man versuche, den GesprLchen zwischen Siegfried und
Mime andere Worte zu leihen! An dieser Anlöslichkeit von Wort- und
Tonsprache scheitern alle literarischen Rettungsversuche, soweit es sich um
wirkliche Meisterwerke handelt. Es ware eher denkbar, daß es einem ge-
schickten Librettisten, der die Gabe der musikalischen Einsühlung besitzt,
gelänge, aus Bruchstücken verschiedener Werke, aus ausgewählten Melo-
dien, die sich besonders dazu eignen, ein neues Drama zu bilden, als
einem sertigen Werke eine neue Dichtung zu unterlegen.

Bis zu gewissem Grade HLngt mit unsern Betrachtungen auch die viel-
erörterte Frage nach der Berechtigung von Textübersetzungen zusammen.
Zunächst sreilich besindet sich der Äbersetzer in einer viel günstigeren Lage.
Er braucht an die Stelle des Originals nichts inhaltlich Verschiedenes zu
setzen. Aber selbst wenn es ihm gelänge, die Worttreue überall mit den
Ersordernissen des Satzbaues, Rhythmusses usw. in Äbereinstimmung zu
bringen, so würde sich seine Äbersetzung doch immer noch klanglich
von dem sremdsprachlichen Original unterscheiden. Was das sür den
SLnger und für die musikalische Wirkung bedeutet, leuchtet ein. Nnd
wieder ist es der Dramatiker, der am meisten darunter leidet, weil ge-
rade er nicht selten auch das Phonetische als Ausdrucksmittel verwendet.
Nun ist aber der Äbersetzer einer ganzen Oper niemals in der Lage, sich,
ohne der Sprache Gewalt anzutun, dem Original überall wortgetreu an-
zuschließen. Nur durch Kompromisse wird er eine Nmdichtung zustande
bringen. Sowie er sich jedoch auch nur in der Anordnung der Worte
vom Urtext entfernt (von größeren, meist unvermeidlichen Abweichungen
ganz zu schweigen), ist der Kontakt schon gebrochen, ist die melodische
Linie nicht mehr der natürliche, absolut konsorme Ausdruck der Dichtung.
Aufsührungen übersetzter Opern sind deshalb immer nur das ungefähre
Abbild eines Kunstwerkes, und man kann es verstehn, wenn auch hier der
radikale Standpunkt vertreten wird, sie seien, wenn irgend möglich, durch
solche in der Sprache des betreffenden Landes zu ersetzen.

Wer aus den dargelegten Gründen das Anstatthafte jener Bearbeitungen
empfindet, die veraltete Opern durch neue Textunterlagen modernisieren
möchten, muß sich wohl oder übel in den Verzicht auf so manches einst
Liebgewonnene schicken. Die Bühnenwirkung HLngt nun einmal in erster
Linie vom Textbuch ab. WLHrend in der zweiten HLlste des vorigen
Iahrhunderts der Opernspielplan sich ziemlich gleich blieb, beginnt die
ältere Literatur jetzt erschreckend schnell abzubröckeln. Die alles mit sich
reißende Wagnerbewegung und die gänzlich veränderten Tendenzen der
Neuzeit haben das Ihrige dazu getan. Gluck hört man kaum noch.
„Fidelio^, „Zauberflöte", „Don Iuan" sind keine Kassenstücke mehr.
„Stradella", „Martha", das „Nachtlager" fristen ihr Dasein in der Pro-
vinz; Gounods „Margarethe" ist eine Seltenheit geworden. Marschners
„Hans Heiling", Spontinis „Cortez", Cherubinis „Wasserträger" und vieles
andere lebt bald nur noch in der Erinnerung. Für Boieldieu und Auber
(mit Ausnahme des „Fra Diavolo") ist jeder Sinn geschwunden. Nnsre
Generation hat andre Ideale, andre Bedürsnisse. Zuweilen wagt ein
Direktor einen Wiederbelebungsversuch. Man freut sich, geht hin und —
ist enttäuscht. Die Gegenwart behält recht: die Eindrücke von ehedem
wollen sich nicht erneuern. Die alles verschlingende Zeit ist nirgend ge-
fräßiger als im Bühnenleben. Iüngst grub das Charlottenburger Deutsche

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