Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1915)
DOI Artikel:
Stapel, Wilhelm; Natorp, Paul: Paul Natorps "Tag des Deutschen"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0242

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
uns in ihr lediglich dus, was rn der zweiten Hälfte aus Selbsterlebnissen
heraus gesagt wird. Dann folgt „Die große Stunde — was sie der
Iugend kündet". Ausgehend von der neuen Iugendbewegung sucht Na-
torp zu erfassen, was uns die Zeit Bedeutsames lehrt, der Iugend vor
allem, aber auch dem ganzen Volke. Wir können nicht ohne Vorbehalt
zustimmen, wenn Natorp sagt, daß der Staat „mächtig über wirtschaft-
liche, religiöse, kulturelle Gegensätze und Ligenwilligkeiten, mächtig über die
Rasse, über die Sprache" sei. A.ns scheint, er ist es tatsächlich nicht und er
sollte es auch nicht sein. Der Staat ist eine Linrichtung, und niemals können
Einrichtungen, so glauben wir, Selbstwerte, sie können immer nur Mittel
sein. Auch der Staat soll nur „Erziehungsmittel^ sein. Erziehung aber
heißt nicht freies Schalten über die natürlichen Grundlagen, wie Rasse
und Sprache, sondern Entwickeln dieser Grundlagen. Der Staat ist in
dieser Beziehung nicht der „mächtigste", sondern er ist gebunden. Womit
wir auch Natorp einverstanden glauben. Es handelt sich hier wohl mehr
um eine Abschattung der Gedanken. Natorps weitere Aussührungen aber
über Organisation und Sozialismus im edelsten Sinn scheinen uns rich-
tunggebend für unser künftiges politisches Denken und Iandeln. Immer
klarer und tieser entwickelt der Marburger Denker die Art der Organisa-
tion, die unsre sein sollte, gegenüber der, welche mit England die
Welt beherrscht. Hier entfaltet er im Gegensatze zu so vielen ein echtes
Pathos, das nicht durch Wortkunst wirkt, sondern durch die schlichte Ge-
walt des Ausdrucks einer lebensvollen „Anschauung" der Ideen. Da ist
kein imitierter, sondern wahrhastiger, weil rein sachlicher Vollklang. Na-
torp steigt mit seinen Ideen in die Tiesen hinab, wo der ganze
Mensch aufgerührt wird, seine Begrifse sind keine einseitigen Abgezogen-
heiten. Er gräbt in uns die tiefsten Quellen bloß sür unser sittliches
Urteil über das, was wir erleben. Wir wüßten bis heute keinen zu
nennen, der das in gleicher Weise tut. Darum wünschen wir sein Buch
in die Hände aller derer, die sich ernste Rechenschaft über unsre Zeit geben
wollen. Wir wünschten auch, daß die Neutralen sich aus diesem Buch
über deutsches Denken und Fühlen, über unsre „Kultur" unterrichteten,
statt aus den Feuilletons der Zeitungen.

Im folgenden geben wir einige Proben aus den Aufsätzen.

Wilhelm Stapel

T

lBrüderlichkeit)

Ifnsre IugenL erkennt es freudig als ihr Ligenstes und Liebstes: daß
-E^wir jetzt auf jedem Fleck deutscher Erde, in der Atemnähe jedes Vater-
landsgenossen uns daheim wissen, ihm als Brüder dem Bruder die Hand
reichen dürfen zu freier Gemeinschast, jeden in seiner Ligenheit, seiner
echten Individualität ebenso zu verstehen und zu achten gewillt sind, wie
wir Verständnis und Achtung für die unsere erwarten. Denn der Freie
mag auch um sich nicht Knechte sehen, er ehrt die Freiheit des andern, wie
er die seine geehrt sehen will. And wem seine Heimat lieb ist, der hat
auch Verständnis für die Heimatliebe des andern, er össnet ihm die seine,
wie er auch in der des andern heimisch sein möchte. So wird unser Vater-
land erst wahrhast unser, wenn wir alle uns Brüder sühlen dürfen in dem
einen großen Hause, das uns allen unterschiedslos heute Vaterhaus ge-
worden ist, wie noch nie zuvor.
 
Annotationen