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Kunstwart und Kulturwart — 28,3.1915

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Heft 18 (2. Juniheft 1915)
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Avenarius, Ferdinand: Die Sage lebt
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https://doi.org/10.11588/diglit.14420#0255

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rhr was erzählen. Zu unserm Kaufmann (unserm, dem nächsten!)
sei voriges Iahr eine alte Frau gekommen, die habe gar so viel ein-
gekauft, daß er sie gefragt habe: warum denn? „Weil Krieg wiröl",
habe sie ihm damals geantwortet. „Wann denn?" „Am (. August."
Da hab er mit ihr gewettet, und im August habe sie sich das Wettgeld
auch geholt. Dabei hab er sie gefragt: „Wissen Sie denn auch, wann
Frieden wird?" „Ia." „Wollen wir auch darauf wetten?" „Nein,
denn davon HLtt ich nichts mehr, ich sterbe nämlich vor Friedensschluß."
Und wirklich, jetzt sei diese alte Frau gestorben — nun gäb's also bald
Frieden. Ich ließ nachfragen, wer die Alte gewesen sei. „Lin Miß-
verständnis!^ war die Antwort, „das ist nicht hier in Blasewitz geschehen,
sondern bei einem Kauftnann in Dresden/ Bei weiterem Nachgehen
fand sich, daß es zwar ganz gewiß, aber immer bei einem andern ge-
schehen sei — ich bin dann überall mit Skepsis, aber auch überall mit
einem „Etwas dran ist schon" an sechs Stellen bis ins Erzgebirge hinauf
und wieder abwärts an die Llbe geschickt worden. Wer weiß, ob die
alte Frau nicht durch ganz Deutschland gereist ist. Ich halt's nicht ein-
mal für unmöglich, daß sie sich auf dieser Fahrt in den „wissenden Buben"
in Konftanz oder aber: daß sie sich aus ihm verwandelt hat — verwandt
Lst sie ja ganz innerlich mit ihm. In Iena „war" sie auch. Bei Osna-
brück soll „sie" ein Schäfer gewesen sein, ein Spökenkieker. Immer das-
selbe: der eigne Tod wird prophezeit und dadurch, daß er eintrifft, erscheint
die Hauptprophezeiung glaubhafter. Aber nun: derselbe Sagenstamm treibt
auch bei unsern Kriegsfeinden seine Blüten. Eben lese ich im „Iournal
des Debats": Ein französisches Kind hat erzählt, die Madonna hab ihr
im Traume verkündet, Papa draußen werde verwundet werden, sie selbst
aber werde sterben, und dann werde, im Mai, der Krieg zu Lnde sein.
Tatsächlich sei nun der Vater verwundet worden und sei nun das Mädchen
gestorben! Im Wesentlichen also ganz dasselbe Motiv der Doppelprophe-
zeiung wie bei der alten Frau in Sachsen und Thüringen, dem Schäfer
bei Osnabrück, dem Buben bei Konstanz. Nun auch in Frankreich — das
ist doch merkwürdig genug!

Ietzt gerade ist Ludwig Bechstein fünfundsiebzig Iahre tot. Welche
Freude hätte der an diesem Blühen der Sagenphantasie gehabt! Manche
der neuen Sagen, die freilich alle miteinander alte Sagenelemente in sich
einweben, sind schön. Und es werden gewiß noch andere im Werden —
und manche schon wieder im Welken sein. Man sollte bei einfachen
Leuten mehr darnach herumfragen und das Eigentümliche sammeln. Ich
für mein Teil wäre für Mitteilungen neuer Sagenbildungen sehr dankbar.

Aber eine sehr ernste Seite hat dieses Sagenweben auch. Es scheint
mir unzweifelhaft, daß es bei den Gerüchten über Greueltaten eben-
so stark wie gefährlich mitwirkt. Wo Kriegesschrecknisse unmittelbar sinn-
lich gegenwärtig sind, wo die Angst, die schon in ruhigen Zeiten aus dem
Baumstumpf einen RLuber und aus dem tzandtuch ein Gespenst macht,
bei Kanonendonner und Kampfgeschrei, bei Bränden und Trümmern, bei
Blut und Leichen, und wo neben der Angst der Haß aufs höchfte gesteigert
wird, da können sich aus den gleichgültigsten Ereignissen und sogar aus
reinen Halluzinationen Greuelgeschichten bilden, die dann zum Beschwö-
ren fest geglaubt werden. Auch die nimmt die Sagenphantasie auf, nährt
sie, gestaltet sie und streut sie schließlich hinaus, so daß im Äberall und
Nirgend Greuelgeschichten wachsen. fm) A
 
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