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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

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Heft 7 (Aprilheft 1924)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0046

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Im Uferpark Musik aus dunklen Lauben,

Ein Lied: kennst du das alte Lied nicht mehr?
So lieb, so trüb wie Saft aus schweren Trauben
Ganz langsam quillt das Lied die Wellen her.

Da klingt dein Herz, als ob es Heimweh hätte,
Und sieht doch diese Stadt zum erstenmal,

Zum erstenmal die dunkle Silhouette,

Die schlafend lehnt im fahlen Mondenstrahl.

Vom Heute fürs Morgen

Der Speerttäger

ie Geschichtsepochen, die unser ein-
fühlendes Anschauen am mächtig-
sten rühren und auf die wir deshalb
vielleicht mit eiuem gewissen Neid blik-
ken, sind diejenigen, in dcuen breiteste
Schichten eines Volkes oder gar sein
Ganzes von eincm einheitlichen Welt-
gefühl ergriffen in diesem alle Rätsel
Zureichend gelöst finden, wo jeder dem
anderen innerlich nahe ist und wo alle
Einzelnen ihre Kraft an das gleichs
Ziel hinwerfen. Wenn ich an das Grie-
chenland der Perserkriege erinnere, an
die Archristen oder an das Europa der
^veuzzüge, wird jeder fühleu, was ge-
ureint ist. Wenn man damals das Wort
aussprach oder Heilaub oder
»Gott will es", so hrauchte man das,
was damit gemeint war, nicht ersk
^ange zu definieren, weil Ks ja jeder
ebeuso in sich trug. Vor cinenrMärien-
bild wußte jeder, was die Mutter Got--
ies für ihn, d. h. für alle bedeutete. Ein
^inziger großer Zusammenhang lag als
^and um die Zeitgenosscn herum, alle
degriffen die Welt als dasselbe Ein-
beitliche, ihr Dasein darin als Rolle
arit sicher greifbarem Sinn. Wenn inan
bor fünf- oder siebenhundert Iahren
ein Osterspiel aufführte, so sahcn alle in
biesen Vorgängen das Wesentliche, den
Wurzelboden ihres Daseins, das Shm-
bol des Weltsinnes.

Es gab einen Mhthos.

Dieser Mythos war dcr Oberbegriff
alles Denkens.

Wir heute haben keinen Oberbegriff
mehr, den wir alle gleichmäßig als festen
Punkt hinnehmen und anerkennen
würden.

Ich will das zufällige Beispiel an-
führen, an dcm sich mir diese Tatsache
zuerst klar enthüllte:

Ich ging, wie übrigens vorher schon
oft, an einem Standbild vorüber: ein
schöner männlicher Körper, aufrecht, auf
einen Speer gestützt. Mein Auge glitt
die Linien ab und ich ärgerte mich, daß
das Bildwerk mir so gar nichts sagte,
gar nichts in mir wachrief. Hm, dachte
ich, was geht mich dcine Lanze an?
Himmel, Teufel, brach ich heftiger auf,
weiß der Künstler, wenn er uns die
Kraft und die Schönheit unseres Lei-
bes, wenn er uns den Menschen ge-
ben will, seinem Mann weiter gar
nichts in die Hand zu geben, als ein
Museumsgerät? Sind wir so arm? Fch
dachte ruhiger: was entspräche denn bei
uns Heutigen etwa diesem Speer? Eine
Flinte? Ich lächelte. Ein Hammer? ein
Mikroskop? eine Glühbirne? ein —
Steuerzettel? Ich fand nichts, zu dem
jeder von uns aus Gefühlstiefen heraus
ein Ia sprechen würde, sprechen müßte.
Iedes solche Symbol würde wohl nur
von einem besonderen Stand oder einer
insular abgeschlossenen Geisterklique als
tiefsinnig beredtes Zeichen empfunden,
keines wäre für alle das eindeutig
Wesentliche.

Der Mythos ist gestorben, mausetot.

Von dem, was Weltgefühl heißt,
trägt jeder nur ein Splitterchen in sich,
dessen Stellung zu einem Ganzen er
kaum ahnt. Oder auch einen Haufen
solcher Splitter. Zu deutsch: eiuen
Kehrichthaufen.

Und doch sehe ich unsere Zeit so:

Der Mythos ist tot. Er mußte zer-
trümmert werden, in welcher Gestalt er
auch zu finden war, wcil cr als Schwer-
punkt unseres Handelns ein Außer-
menschliches bestimmte. Nicht etwas,
das über dem Einzelnen liegt, sondern
etwas, das außcrhalb des Mensch-
seins lag.

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