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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

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Heft 11 (Augustheft 1924)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0242

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(das „Gefühl") nicht, und ohne die können Sie uns nicht verstehen. Wir
hingegen durchblicken kraft eben dieser geheimen Gabe Ihre Auffassung bis
in den Urgrund!" Auch dieser Sekte habe ich darauf erwidert: Anter
euch mögt ihr euch Geheimnisse und Gnadengaben einbilden, soviel euer
Verstand duldet, nur wenn ihr damit das ganze Volk anführen wollt,
wird das bedenklich! Und ich fürchte, daß ich sie solcher Art nur allzugut
verstanden habe... Sch

Dichterland

ine immerhin größere deutsche Äa»
geszeitung bespricht einen Rilke-
Vortrag und beschließt ihre Ausfüh-
rungen mit der erhebenden Phrase,
daß hier durch eine oder zwei Stunden
»ein Dichter in Dichterland geführt"
habe. Ich will hier nichts gegen den
„Dichter" sagen, er wird wirklich nicht
uur aus Lokalpatriotismus so ge-
uannt; er bleibe ganz aus dem Spiel.
Aber welch erschütternde Spießerphan-
tasie offenbart sich in dem Worte
„Dichterland"! Als ob man sich das
allbeliebte „ein wenig Sonne in den
Alltag" habe mischen lassen. . .

Männer wie Rilke fabulieren nicht
beliebige hübsche Dichter-Ungereimt»
heiten in einem himmelblau ange-
strichenen Ienseits, aus dem man mög-
lichst schnell zu seinem Glase Bier
wieder zurückflüchtet, sie leben nur
und ganz im Diesseits und im heute
lebendigen Atem, und rütteln an un-
serer ganzen Seele, und heischen, daß
wir ihre Gesichte in uns tragen, daß
wir mit ihnen leben, heutig — nicht,
daß wir sie uns ein oder zwei Stun-
den lang wie andere Gegenstände eines
Panoptikums vorführen lassen und
sie mit jeder Handlung und jedem
Wort der dritten Stunde schon wieder
kreuzigen.

Wenn Nilke selbst vor dem offen-
barenden Gliederspiel eines archai-
schen Apolltorsos ausruft: „Denn da
ist keine Stelle, die dich nicht sieht —
^ du mußt dein Leben ändern", so
ist das die erhabenste Formel, mit der je
gesagt worden ist, was ein Kunstwerk
in uns wirkt: es sieht, wo wir falsch
und wo wir Schlacke sind, und unser
Blut heischt: ich will echter werden.

-Aber der Spießer findet den Aus-
weg: Dichterland; das ist dort drüben;

jetzt ist der Vorhang wieder unten;
da gilt das älles nicht mehr; ich
brauche keine Energie aufzuwenden;
ich bin überhaupt gar nicht gemeint
gewesen; komisch, was manche Leute
so phantasieren; na ja, sind eben
„Dichter". —

Das heißt: Leute, die man nicht
so ernst zu nehmen braucht. Das ist
es! Dichterland, Fabelwelt, Zeitver-
treib.

Aber es ist noch mehr. In dem
Worte liegt zugleich der ganze er-
schütternde Dualismus, dem man auch
in der Politik und überall begegnet.
Wo immer etwas geschieht, stets sind
es „die" gewesen, die anderen, die
drüben. Ich glaube, das Wort „un-
sere Angelegenheit", wobei ich mit
„uns" etwas mehr als eine wirt-
schastliche, parteiliche usw. Klique
meine, ist von den meisten Hirnen noch
nicht ausgedacht worden.

Sind doch bei uns noch nicht ein-
mal die geistigen Werke öffentliches
Gut, sondern Schaustücke aus „Dichter-
land" .... P.R.

Dte wandernde Menschheik*

ir kommen aus Tiefen,
wir steigen zum Licht,
wir wandern und kennen
die Ziele doch nicht.

Iahrtausend mal tausend
schon ziehn wir daher,
der Menschheit Geschlechter,
das endlose Heer.

* Im Iulihest haben wir einen
Aufsatz von Hagen Lürnau über
Neue Andachtslieder veröffentlicht. Der
Verfasser forderte darin eine neue Art
von Andachtsliedern. Er sandte uns
gleichzeitig eine von ihm verfaßte
Probe eines solchen Andachtsliedes, die
wir im folgenden abdrucken.

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