eng und banal sein, sie hat doch wenigstens etwas von warmer Mensch--
lichkeit; in.Berlin gibt es überhaupt keine. Dasür sorgen schon die Entfer-
nungen, sorgt die Geschäftigkeit, die hier alle beim Kragen packt, sorgen
die unendlichen Äberschneidungen der Kreise und Zirkel. Das fördert die
Arbeitskraft, sagt man uns wohl zum Troste. Ia, sür den jungen Studenten
mag das zuträglich sein, für jeden erst Lernenden überhaupt. Der in sich
Reife will lebendige Wirkung vom Menschen zum Menschen, und die sucht
er hier vergebens: jeder behauptet, genug mit sich selbst zu tun zu haben.
Ich will hier nur Glossen machen; auch nur der Versuch einer irgendwie
erschöpfenden Charakteristik Berlins und des Berlinertums liegt außer-
halb des Bereichs solcher Randbemerkungen. Drum bleibe ich auf der
„Bahn^ und schließe mit einer unscheinbaren Alltagsbeobachtung, der aber
doch vielleicht eine tiefere Allgemeinbedeutung zukommt.
Ich fahre jeden Werktag mehrere Male auf derselben Vorortstrecke „in
die Stadt". Da Lrgerte ich mich allmählich, in meine Zeitung vertieft,
vielleicht auch während der harten Entbehrungsjahre empfindlicher ge-
worden, als es sich für den echten Berliner schickt, über das schmetternde
Türzuschlagen der unterwegs Aussteigenden, das bei dem federnden Me-
chanismus ganz und gar nicht nötig wäre. Und ich beschloß, es mit einer
Erziehungskur zu versuchen, ähnlich wie jener Landmann — in Hebels
„Schatzkästlein^ glaub' ich —, der durch sein unermüdliches Steinaussammeln
so im Hin- und Hergehen seine ganze Nachbarschaft zu dieser natürlichen
Bodenverbesserungsmethode erzog. Schloß also — immer auf derselben
Strecke, immer in demselben Abteil, immer zu denselben Zeiten — die Tür
mit betonter ruhiger Gelassenheit oder sah fein sorgsam hinter mich, ob
etwa noch nach mir jemand aussteige, um sie ihm nicht vor der Nase zuzu-
schlagen. Die erstaunten Blicke, die ich da erntetel „Der ist gewiß nicht
von hier!" schienen sie alle zu sagen. Oder: „Was muß der Zeit haben!"
Vielleicht auch: „Will sich der mausig oder originell machen?" Denn wer
Zeit hat, fällt hier auf; wer hinter sich blickt, statt vor sich, kommt in den
Verdacht eines Müßiggängers; wer es nicht knallen und krachen läßt,
wo sich irgend Gelegenheit dazu bietet, gilt als flau und untüchtig. Nach-
folgerschaft habe ich also bisher nicht erzielt. Ich werde deshalb von der
mir liebgewordenen leiseren Gewohnheit nicht lassen, werde drum aber
wohl auch bis an mein seliges Ende als Fremder in Berlin gelten.
Ernst Dettleff
Deutsche Wesensart
Von E-K. Fischer*
^lV^ir haben die Gesichter und Gesichte des deutschen Menschen durch
- anderthalb Iahrtausende im Spiegel der Kunst verfolgt und ge-
funden, daß jede Systematisierung, jede scharfe Periodisierung,
jede Gegensatzkonstruktion Fälschung ist. Wir sind nicht Entweder- oder,
wir sind Sowohl- als auch... Der Deutsche ist seelisch bipolar, es drängt
* Änser Mitarbeiter vr. Eugen Kurt Fischer hat im Sibyllen-Verlag zu Dresden
ein Buch erscheinen lassen; „Deutsche Kunst und Art, von den Künsten als
Ausdruck der Zeiten" <876 S., 44 Abb.). Dies ist der jüngste Beitrag zur Lösung
der Frage nach dem Deutschtum und seinem eigentlichen Kern; und es iit einer
der vorsichtigsten, weitest angelegten und fruchtbarsten. Fischer durchmißt mit
lichkeit; in.Berlin gibt es überhaupt keine. Dasür sorgen schon die Entfer-
nungen, sorgt die Geschäftigkeit, die hier alle beim Kragen packt, sorgen
die unendlichen Äberschneidungen der Kreise und Zirkel. Das fördert die
Arbeitskraft, sagt man uns wohl zum Troste. Ia, sür den jungen Studenten
mag das zuträglich sein, für jeden erst Lernenden überhaupt. Der in sich
Reife will lebendige Wirkung vom Menschen zum Menschen, und die sucht
er hier vergebens: jeder behauptet, genug mit sich selbst zu tun zu haben.
Ich will hier nur Glossen machen; auch nur der Versuch einer irgendwie
erschöpfenden Charakteristik Berlins und des Berlinertums liegt außer-
halb des Bereichs solcher Randbemerkungen. Drum bleibe ich auf der
„Bahn^ und schließe mit einer unscheinbaren Alltagsbeobachtung, der aber
doch vielleicht eine tiefere Allgemeinbedeutung zukommt.
Ich fahre jeden Werktag mehrere Male auf derselben Vorortstrecke „in
die Stadt". Da Lrgerte ich mich allmählich, in meine Zeitung vertieft,
vielleicht auch während der harten Entbehrungsjahre empfindlicher ge-
worden, als es sich für den echten Berliner schickt, über das schmetternde
Türzuschlagen der unterwegs Aussteigenden, das bei dem federnden Me-
chanismus ganz und gar nicht nötig wäre. Und ich beschloß, es mit einer
Erziehungskur zu versuchen, ähnlich wie jener Landmann — in Hebels
„Schatzkästlein^ glaub' ich —, der durch sein unermüdliches Steinaussammeln
so im Hin- und Hergehen seine ganze Nachbarschaft zu dieser natürlichen
Bodenverbesserungsmethode erzog. Schloß also — immer auf derselben
Strecke, immer in demselben Abteil, immer zu denselben Zeiten — die Tür
mit betonter ruhiger Gelassenheit oder sah fein sorgsam hinter mich, ob
etwa noch nach mir jemand aussteige, um sie ihm nicht vor der Nase zuzu-
schlagen. Die erstaunten Blicke, die ich da erntetel „Der ist gewiß nicht
von hier!" schienen sie alle zu sagen. Oder: „Was muß der Zeit haben!"
Vielleicht auch: „Will sich der mausig oder originell machen?" Denn wer
Zeit hat, fällt hier auf; wer hinter sich blickt, statt vor sich, kommt in den
Verdacht eines Müßiggängers; wer es nicht knallen und krachen läßt,
wo sich irgend Gelegenheit dazu bietet, gilt als flau und untüchtig. Nach-
folgerschaft habe ich also bisher nicht erzielt. Ich werde deshalb von der
mir liebgewordenen leiseren Gewohnheit nicht lassen, werde drum aber
wohl auch bis an mein seliges Ende als Fremder in Berlin gelten.
Ernst Dettleff
Deutsche Wesensart
Von E-K. Fischer*
^lV^ir haben die Gesichter und Gesichte des deutschen Menschen durch
- anderthalb Iahrtausende im Spiegel der Kunst verfolgt und ge-
funden, daß jede Systematisierung, jede scharfe Periodisierung,
jede Gegensatzkonstruktion Fälschung ist. Wir sind nicht Entweder- oder,
wir sind Sowohl- als auch... Der Deutsche ist seelisch bipolar, es drängt
* Änser Mitarbeiter vr. Eugen Kurt Fischer hat im Sibyllen-Verlag zu Dresden
ein Buch erscheinen lassen; „Deutsche Kunst und Art, von den Künsten als
Ausdruck der Zeiten" <876 S., 44 Abb.). Dies ist der jüngste Beitrag zur Lösung
der Frage nach dem Deutschtum und seinem eigentlichen Kern; und es iit einer
der vorsichtigsten, weitest angelegten und fruchtbarsten. Fischer durchmißt mit