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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1924)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Deutsche Wesensart
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0136

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des Rhythmus — freilich nicht des starren choreographischen Gesamtbildes
— vereint. Im Walzer kann man fast das Sinnbild der deutschen Kunst
überhaupt erblicken. Es ist der Tanz des lyrischen Zwiegesprächs der Glieder,
gibt der Persönlichkeit freien Spielraum und vermeidet doch streng jedes
Abweichen vom Rhythmus. Das Menuett ist unpersönlich, Gesellschafts-
tanz, Ausdruck höfischer Etikette, läßt nur kleine typische Nuancen zu, ge-
schrittene oder mit Fingerspitzen und Kopfwendungen bedeutete Bonmots
und artige Galanterien. Es ist Ausdruck gereifter, aber auch abgeschlossener
Kultur, während der Walzer die oft mißverstandene Koinzidenz von Kunst
und Natur bedeutet. Wir haben statt Rembrandt Dürer betrachtet: er ist
minder einheitlich, minder mystisch, minder losgelöst von der Herrschaft des
Dinglichen, aber auch bei ihm, dem nach umfassender Weltschau Dürstenden,
findet sich die Form als fortlaufender Ausdruck, die Form als graphologisch
deutbare, nicht in ein stehendes Schema projizierbare, endlose Lebenskurve
des Künstlers. Wohl wird nach äußerem Abschluß und Zusammenhalt auch
in deutscher Kunst gestrebt, aber schöpferische Form heißt bei ihr nicht
Symmetrie, Proportion, Raumaufteilung, Ponderation der Farbwerte, son-
dern innerer Rhythmus, der in der Kurve des Stifts, im Schwung des
Pinsels, in der Aktivität der Farbe und der Farbengegensätze zum Ausdruck
kommt. Diese schöpferische Form läßt sich in aller wirklichen deutschen
Kunst aller Zeiten aufzeigen. Sie ist immer neu, nie gegeben, muß erlebt
oder nacherlebt werden, sie fällt nicht ins Auge, noch ins Ohr, sie wird
durch keinen rein physiologischen Prozeß, sondern durch einen seelischen
angeeignet. Sie ist Sprache des Einsamen zum Einsamen oder zur Ge-
meinde der Einsamen, sie durchdringt jede Konvention und setzt Exklusivität
an ihre Stelle. Die Metamorphosen, die fast alle mündlich überlieferten
Volkslieder durchgemacht haben bis zur Mechanisierung der Musikübung
vor wenigen Iahrzehnten, bezeugen die Schöpsepkraft, die in dieser deut-
schen „flüssigen" Form liegt... Immer wieder verrät sich der mythische
Kern deutscher Kunstübung, wie in den gemalten und gereimten Toten--
tänzen des späten Mittelalters und in den zahllosen Märchen und Sagen
und Volksliedern, die einmal Hauptgegenstand künftiger Kunstwissenschaft
sein werden.

Lose Blätter

Pechvögel*

war in der Schenke des Iohn Micky. Ich sage mit Absicht: „es" war,
I^I^denn ich habe meine Gründe dafür. Ihr müßt nämlich wissen, daß
^»^es Leute gibt, die gerne wissen möchten, ob ich selbst in jener Schenke
war, und sie würden mich nicht loben, wenn ich behaupten würde, noch
niemals an einem derartigen Orte gewesen zu sein; wenn ich ihnen aber
andererseits erzählen würde, daß ich dort gewesen sei, würde es mir auch
nicht viel besser ergehen. Deshalb sage ich: „es" war im Hause des Iohn
Micky, und dabei bleibt es.

Es war an einem Markttage und das Haus voll von rauhen hochge-
wachsenen Männern, ungepflegten rotblonden Weibern und hungrigen,

* Vgl- hierzu den Rundschaubeitrag „Zwei Bücher aus Irland".
 
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