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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1924)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Deutsche Wesensart
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0135

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der Faust ein Bühnenepos, Beethovens Symphonien sind Tonepen, und
das Berliner Schloß ist nicht minder episch empfunden. Nicht umsonst ist
der Ichroman die beliebteste und deutschem Dichteu am meisten gemLße
literarische Form geworden. Er allein, der Nachfolger des alten Typen-
Epos auf der Stufe des extremen Individualismus, besitzt jene unendliche
Abwandlungsmöglichkeit, jene Raumweite zur Entwicklung kosmischer Fülle,
die der geschlosseneren Form meist versagt ist. Nicht zufällig ist die Haupt-
leistung des alten Frankreich ein Roman von geradezu deutscher Maßlosig-
keit, Rabelais' „Gargantua'ß nicht zufLllig ist die Form von Eervantes'
„Don Quichotte" fast so locker und buntgefüllt wie die von Fr. Th. Vischers
„Auch einer^. Und nun verstehen wir auch, weshalb das Land der klassi-
schen Komödie und Tragödie nicht mit seinen Literaturgeschichtsgrößen Mo-
liere, Corneille, Racine die Herzen der Völker eroberte, sondern mit seinen
großen Romanciers von Balzac bis Flaubert und in zweiter Linie mit
seinen Lyrikern von Alfred de Musset bis Baudelaire und Verlaine. Das
französische Gesellschaftsstück hat ein paarmal für kurze Zeit die Unterhal-
tungstheater beherrscht, die französische große Oper ist im europäischen
Spielplan mit ein paar Werken vertreten, im übrigen ist neben dem Roman
und der Lyrik nur noch eine Kunst von europäischer Bedeutung geworden,
die französische Freilichtmalerei. So groß die Nnterschiede zwischen diesem
kryptoepischen Charakter der französischen und dem der deutschen
Künste im Einzelnen immer sein mögen, die größere Eignung der Ent-
wicklungs- gegenüber der Verwicklungskunst zur Schaffung unvergänglicher
Werke bestätigt die Kirnstgeschichte beider Völker. Wirft man noch einen
Blick auf Shakespeares regelloses Drama, auf Rußlands und Skandinaviens
Roman, auf Ostasiens Lyrik, so wächst der Glaube an die Richtigkeit des
Arteils. Die Kunst des Schachbretts, alias aristotelischsn Dramas, ist reins
Technik. Sie kann Ausdruck eines Geistigen sein, sie kann auch seelische
Abläufe aufdecken, aber schwerlich gelingt ihr die dauernde Einbeziehung
ins Kosmische. Alle Regelkunst ist zweidimensional, Silhouettenkunst, sie
gibt nur die Flächenbeziehungen, keine Tiefenbeziehung. Das Genie frei-
lich gibt auch hier das Lebendige, aber nur dadurch, daß es irgendwo die
Regel durchbricht, ohne jedoch das ganze Geflecht zu zerreißen, wie es dem
Stümper geschähe. Der Drang zum Ausdruck hat zur Verachtung der Regel
geführt. Das Irrationale ist chaotisch, meinte man. Dilettanten war dies
ein 'Ansporn. Als ob das Irrationale anders als im Rahmen des Rationa-
len in Erscheinung treten könnte, als ob Freiheit anders, denn als Grübchen
oder Schönheitspflästerchen auf Kinn und Wange der Regelmäßigkeit sich
zeigte. Nur gibt es eben zweierlei Regelmäßigkeiten, die inan, indivi-
duell gesehen, die des Talents und die des Genies nennen könnte und deren
eine vorwiegend in Frankreich, deren andere in der Hauptsache bei uns
zu Hause ist. Einen tzaken hat aber die Sache,- in Frankreich genügt es,
ein Talent zu sein, um die Forderungen der Kunst zu erfüllen, der Deutsche
muß ein Genie sein, um ein im deutschen Sinne reifes Kunstwerk Zu
schaffen. Die Folge ist: in Frankreich gibt es ein literarisches Niveau, in
Deutschland keines. In Frankreich gibt es wenig wirkliche Größen, in
Deutschland viele, allzu viele Psuscher. Für sie vor allem ist der immer
wiederkehrende Drang zum Klassisch-Begrenzten Notwendigkeit und ein
wahrer Segen. Sie können vielleicht im peinlich einstudierten Menuett mehr
leisten als in der Freiheit des Walzers, der scheinbare Willkür, schranken-
lose Individualität und unendliche Linie doch mit der .Regelmäßigkeit
 
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