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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1924)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Deutsche Wesensart
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0134

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wird nie im Ziele selbst, sondern immer am Wege liegen und wird dem
Kunstwerk sein Gesicht geben, in dem Sehnsucht stets der herrschende Zng
sein wird. Sehnsüchtig war Notker der Deutsche, ssin Gotterlebnis in
deutscher Sprache verkündbar und vermittelbar zu machen, wie später
Luther, sehnsüchtig war der gotische Baumeister, dem kein Turm hoch^
kein Maßwerk zart, kein Lichtmysterium geheimnisvoll genug war, sehn-
süchtig war Herr Walther von der Vogelweide, den es durch viele Länder
trieb, zu Frauen, zu Fürsten, zum Heimatland, sehnsüchtig war der heil-
begehrende Parzisaldichter, sehnsüchtig Gottfried, der das deutsche hohe
Lied der Minne jenseits von Gut und Böse schrieb, sehnsüchtig jene gläu--
bige Menge, die viele Tage aus der Bühne des Mirakelspiels ausharrte
im Anblick des Symbol gewordenen tzeilandsgeschicks, sehnsüchtig war
Albrecht Dürer, der Mensch und Natur zu ergründen trachtete mit Stichel
und Stift, mit Messer und Pinsel, sehnsüchtig war der gewaltige Visionär
Grünewald, Sehnsucht trieb die Humanistsn ins Land der Nömer und
Griechen, Sehnsucht bäumte sich hoch in barocksn Bauten, Plastiken und
Passionen, Sehnsucht bluterfüllter Menschen, sehnsüchtig waren die ersten
dichterischen Manifestationen des freien Individuums, Günthers Leonoren-
lieder, Klopstocks Oden und sein Messias, die Dramen des Sturm und Drang,
die Dichtungen der Romantik — zu denen ja auch die der Klassik innerlich
gehören —, Sehnsucht ist alle Musik von Bach bis Beethoven, von Schubert
über Schumann zu Hugo Wolf, Sehnsucht ist die Dichtung des Naturalis-
mus und die Wirklichkeitstrunkenheit der impressionistischen Malerei, Sehn-
sucht die Seele des Expressionismus in allen Künsten und unsere Anwart-
schaft auf die Zukunft. Sehnsucht reißt unser Volk in diesen Tagen der Not
in Hakenkreuzler und Sowjetbesternte auseinander und macht die nüch^-
tsrnste Linstellung zur hingebungsvoll verteidigten Glaubenssache. Nie
genügt dem Deutschen das Erkannte, dessen Darstellung in vollendeter Form
den Franzosen lockt, immer strebt er dem Nnbekannten zu. Noch die Theoso-
phie und Spiritisterei unserer Tage gehört zu diesem Kapitel. Wer die
Sehnsucht als Triebseder aller deutschen Kunst kennt, überschaut ihre end-
lose Tragik und weiß, wie wahr Ibsens Wort ist, daß Dichten heiße:
Gerichtstag über sich selbst halten, und wie wahr die deutsche Redensart
ist vom „mit Herzblut schreiben"'. Auf allen Gebieten der sämtlichen Künste
hat sich der Deutsche, bald abwechselnd, bald gleichzeitig versucht, im Mit-
telalter am glücklichsten im Epos und der Baukunst, zur Renaissancezeit
in der Graphik, zur Barockzeit in Baukunst und Musik, in der weiteren
Folge im Roman, Drama, in der Lyrik, in Musik und Malerei, in jüngster
Zeit auch wieder in der Baukunst und, in zaghaften Ansätzen, in der indi-
viduellsten und zugleich auch wieder allgemeinverständlichsten, weil anthro-
pomorphesten Kunst des Tanzes. Äberall da, wo Bewegung, und zwar
fortlaufende, nicht abgezirkelte, gestaltet wird, zeigten sich Höchstleistungen,
also im Epos, in der Lyrik, in der Musik, in der Malerei und in der
romantischen Baukunst. Wo Abzirkelung Sieger blieb, fühlen wir uns
frostig berührt, so etwa von dem Innern klassizistischer Kirchen, selbst
mancher Barockkirche, von ganzen Straßenzügen wie der Ludwigstraße in
München oder der Neckarstraße in Stuttgart, von Dramen, die mit falsch
verstandenem Aristoteles-Bandmaß gsschneidert sind wie Gottscheds „Ster-
bsnder Cato". Wo aber die Abzirkelung überwunden ist, wird eine Form
erreicht, die nur äußerlich noch Drama oder Sonate oder antikisierender
Tempelbau ist, die aber in Wirklichkeit epischen Charakter trägt. So ist
 
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