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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

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Heft 9 (Juniheft 1924)
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Reise nach Italien
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Dettleff, Ernst: Norddeutsche Gedanken über Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0127

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wollen, so rote Lippen zu haben, sondern sich sorglos mitten auf der Straße
schminken.

Aber ich liebe die freien großen Kirchen, die die Romanen gebaut haben.
Man tritt in eine solche Basilika ein, lächelnd empfangen von Weite und
bunten Altären, ohne gedrückt und gedemütigt zu werden. Gut fst das Ver--
HLltnis der Romanen zu Gott! Sie verzerren und quälen und ängstigen
sich nicht, wie die Gotiker, und vergessen ihn auch nicht. Sie bringen ihm
ohne Scheu Blumen und Kerzen und Gebete, mit Lächeln zu ihm tretend
und mit Lachen zurückkehrend auf die blendende und schreiende Straße.

Es ist wahr: sie schreien! Sie sind so lärmfreudig wie farbenfroh. Das
Bekunden ist auch im Theater. Ich sah die „Gioconda" von d'Annunzio.
Die Aufführung war sehr gut. Ohne viel Worte zu verstehen, lebte ich mit.
Die Schauspieler: kultiviert; Stimmen von englischer Fülle und Wärme.
Das Publikum, das großenteils aus nicht eben reich scheinenden Männern
bestand, klatschte begeistert mitten in Dialoge hinein, bei offener Szene.
Auch das lisbe ich. 2Nan soll nicht feierlich dasitzen Md eine impulsive
Freude unterdrücken aus Angst, daß das etwa nicht vornehm ist. Vornehm
sind sie nicht, die Italiener, absr sis sind mehr: sie sind wahrhaft lebend.

Zum Schluß, eben auf jener Rückfahrt mit den fünf Sprachlehrern, ge-
schah mir ein letztes Wunder. Einer der fünf Männer — er sprach ein
wenig deutsch — wurde Freund. War nicht mehr Italiener, nicht mehr
Mann, nur Mensch noch von verwandtem Geist. Es ist möglich, daß wir
uns nie mehr wiedersehen; möglich, daß wir uns bald vergessen. Dennoch
bleibt das schönste Erlebnis dieser Reise diese letzte Erkenntnis: Es gibt
nicht Grenzen der Sprache, der Landschaft, der Nation vor dem Geiste.

Rückreise: Ein träumerisches Verweilen noch im Tal der tausend blühen-
den Apfelbäume, ein Baden in neuem Grün und Sonnenwärme, dann
gleiten wieder Deutschlands strenge karge Flächen, violett und grün, von
grauen Gewässern durchströmt und von leeren herben Bäumen bestanden,
am Zuge vorüber. Rnd doch strömt das Herz freudig über und segnet die
Heimat und lacht: für wen deun sog ich Italiens Süße ein und trank sein
Licht, sür wen denn füllte ich mich mit seiner Schönheit an und nahm vom
Geschmeide seines Gelächters, wenn nicht für Dich, Heimat? Noch fetzte
ich kaum zögernde Kinderschritte über die Grenze und kehre doch schon be-
schenkt und schenkend zurück. Aber du wirst mich länger entlassen, Heimat,
und ich will dir zum Dank tausend welsche Orangen pslücken und sie in
deinein Schoße zu Paradieses Apfeln verwandeln!

Norddeutsche Gedanken über Berlin

/2^iner jener bittern Witzbolde, an denen unser armes Deutschland jetzr
H^F^so reich ist, hat einmal gesagt, es gebe für die deutschen Staaten und
^^Stämme nur eine Einigkeit, in der sich alle fänden, und das sei der
Widerwille gegen Berlin. Ein Epigramm, überspitzt wie alle Epigramme,
aber mit einem Kern Wahrheit in der stachligen Schale, der nicht wegzu-
leugnen ist, den wegzuleugnen gar nicht versucht wird, auch von den Ber-
linern selbst nicht. Man muß nur einmal, etwa bei einer aus allen Teilen
Dsutschlands beschickten Knlturtagung in Mitteldeutschland, erlebt haben,
wie schnell und glatt sich alle auseinanderstiebenden Meinungen zusammen-
finden, sobald es auf den Widerspruch oder den Ansturm oder auch nur auf
die Verteidigung gegen das Berliner Votum ankommt, und man muß
 
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