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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

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Heft 9 (Juniheft 1924)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0143

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Liebe, Mitleid und Hohn, Lmpörung
und Verzweiflung. Alles Menschliche
erhebt seine Stimme. Seine Schöp-
fung macht lacheu und weinen, unter-
hält, stimmt zum Nachdenken und Phi-
losophieren. Sie spiegelt die Sittenge-
schichte seines Volkes und die Physio-
gnomie des modernen Daseins. Aber
vor allem ist sie eine plastische Offen-
barung< Män nennt ^ilhn den Vater des
Aealismus, aber dieser Realist ist der
größte Phantast. So durchdringend, so
untrüglich seine Beobachtung erscheint,
noch größer ist seine Erfindung. Er
kommt ganz von innen heraus und er-
schafft die Melt nach seinem Bilde."

In der Tat ist Daumier zuglcich
Zeitmensch nnd überzeitlicher Schaffen-
der. Man kann ihn ebensogut an deu
Anfang der letzten Epoche wie in die
Mitte der unseren stellen. Klossowskis
ehrlich begeistertes und alles Künstle-
rische geschickt darstellendes Buch mit
den überraschend eindringlichen Abbil-
dungen bedeutete nnd bedeutet eineEr-
schließung von wahrhafter Tragweite.

Wir danken dem Werk und seinem
Perlag die Möglichkeit, ein Bild Dau-
miers wiederzugeben, das darin als
Abbildnng sOO zu sinden ist. „Der Wa-
gen 3. Klasse" '— dieses Thema hat
Daumier an fünfzehn Mal behandelt.
Eine andre Fassung als die nnsere ist
bekannter (Klossowski zeigt beide). Auf
beiden dumpfe Müdigkeit, abgelebkej
Menschenkinder, die den Alltag müh-
sam schleppen, doch nicht eine Samm-
lung von Figurenzeichnungen, sondern
Kraft der Komposition und Atmo-
sphärenmalerei ein Spiegel des Typus
unterschichtigen Lebens, eine stumme
Mahnung an den ungeheuren, trüben
Alltag der Millionen. Die bekanntere
Fassnng ist imEinzelnen schärfer durch-
gebildet, stärker im persönlichen Uus-
druck; die unsere hat mehr Schwere,
mehr Stickluft, Entpersönlichung, bild-
durchwaltende Wucht; sie ist monu-
mentaler Uusdruck für das schmerzliche
Thema. H

Hengelers „Phantasten"

ine bedeutcnde Anzahl von Tafeln,
auf denen farbige und farblose
Graphiken Udolf Hengelers auf-
geklebt sind, hat der Musarion-Verlag
zu München mit einem unkritisch-ver-

ehrungsvollen Vorwort G. I. Wolfs
als Mappe herausgebracht („Phanta-
sien"; einf. Ausg. 30 Mk.). Der Maler
ist von früher her aus den Fliegenden
Blättern, nun schon lange als Mün-
chener Akademieprofessor bekannt. Kein
Wort ist nötig über sein Können; wenn
je einer vermocht hat, was er wollte,
so er; das zeigen die kleinen, reifen,
ausgewogenen, wohlkomponierten Blät-
ter allenthalben.

Sein Wollen aber zwingt wohl zn
einem Ia oder Nein. Ich neige zum
Nein. Wolf nennt dies, und Viele
nennen es Humor. Das heißt —
allzu wörtlich genommen — Feuch-
tigkeit. IH für mein Teil em-
pfinde es als absolute Trockenheit.
Nicht eines der Blätter macht mich auch
nur lächeln, keines lachen. (Ich darf,
und muß wohl, hier einfügen, daß ich
für andere Humore niHt unempfäng-
lich bin, weder für Kirchnerschen noch für
Kreidolfschen, weder für antiken Mas-
kenhumor, noch für Weltische Späße,
noch für Gulbranssonschen oder über-
haupt Simplizissimussischen Bilderwitz.)
Mir scheint es ein Schicksal; sein
Wahrspruch: „Wehe dem Illustrator!"
Zwei Drittel der Blätter sind Illustra-
tionen zu ungeschriebenen Humoresken,
.Märchen, Spukgeschichten, sind Amü-
sierphantastik. Das aber heißt: sie er-
scheinen nicht als geboren aus bild-
nerischer Konzeption, sondern
aus „literarischem Einfall".
Man glaubt einem unbewußten (!)
Schaffen ins Innerste zu blicken, darin
sich mannigfache Kräfte beraten: „Wie
wärs, wenn wir einmal ein paar
glupschäugige Fische von großem For-
mat hersetzten und daneben eincn kleinen
Mann mit Mantilla und Spitzhut —
wärs nicht komisch?" Oder: „Heda!
Ein Riesenphilisterantlitz, Blumen in
den Schädel gesteckt, große Brille, Au-
gen in cinen Folianten stierend —
Fausts Wagner in Karikatur etwa! —,
dahinter ein nacktes Weibel, rechts ein
zwergiger Pfeifenraucher, ein Riesen-
straußenei, eine Bauernburschenphysio-
gnomie auf überdickem Leib, eine große
Waschschüssel mit Radi — und fertig.
Das wird eine Hetz! — Vielleicht noch
ein paar Bäume dazu! —, nnd eine alte
Frauü" Nun wird der Einfall aus-
geführt. Es gibt aber keine Hetz und

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