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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

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Heft 11 (Augustheft 1924)
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Elenora Duse: ein Epilog der Epiloge
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0212

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des seligen Schauders zwingen konnte: S o also kann ein Mensch anch sein?
Bis zuletzt meinten sie: Genialer Theaterinstinkt! Angeborene Schau-
spielerei von Stil! Und weil „Unglück" diesen armen Teufeln nur als
ein Schönheitsfehler, als die Achillesserse des Lebens zu erscheinen ver-
mag, bewinselten sie die Tragödien der Liebe, die Tragödien der Einsam-
keit, und die letzte Tragödie: die vom Gelde, in der Duse Leben, und
staunten fassungslos das Wunder an, daß ein Mensch trotz so viel „Un-
glück" ein solch grandioser Schauspieler sein kann.

Freilich, einen Grund, der ihr Mißverstehen entschuldigen könnte,
haben diese kleinen Wilden: Eleonora Duse ist, wenn der Schein nicht
trügt, im Bewußtsein gestorben, sie sei in der Tat eine vom Schicksal Ver-
femte gewesen. Nicht, daß sie in diesem Bewußtsein auch immer gelebt
hätte: o nein! Zuweilen mußte ja das Phänomen, welches in ihr sich,
verkörperte, ihr bewußt werden; mußte sie mit den unzähligen Organen
ihrer Sinne und ihres Geistes erkennen, daß sie eine Gesegnete war,
und daß alles „Unglück", das wie ein wachsendes und unausgesetzt hinter
ihr dreinstürzendes Schwerterheer sie zerfleischte, die selbstverständliche Folie
dieses Gesegnetseins, — und oft genug geradezu dessen Ursache war. Denn,
ein großer Mensch sein dürfen, heißt: das Unglück bis hinab in seinen
kleinsten und gemeinsten Nadelstich erfahren müssen, durch dieses ununter-
brochene Erfahren aber in jene stolze Freiheit des Wissens hinaufwachsen,
daß „Leid" die Treppe zur „Freude", „Schatten" der Zwillingsbruder des
»Lichts", — und die „Welt" der Leib des Geistes „Gott" ist.

Zu diesem Wissen scheint die Duse nicht mehr gelangt, die Glorie, die
sie in schwingenden Stunden empfand, scheint eine unbewußte geblieben
Zu sein; obwohl die stolze Freiheit schon erreicht war! Nnd das ist nicht
unbegreiflich. Die Duse gehörte einer Zeit an, welche Gott und Welt als
Zwei, die Welt aber als zwiegeteilt in „Glück" und „Unglück" und in „Gut"
und „Böse" empfand, und noch nicht wußte, daß die Einheit, welche Gott
und Welt bilden, kein „Nnglück" und kein „Böse" kennt, sondern nur
Eines: Die Selbstverwirklichung jedes Geschöpfes im Tiefsten und zugleich
Weitesten des Maßes, welches ihm zugemessen ist, weil diese seine höchst-
mögliche Selbstverwirklichung zugleich die höchstmögliche auch der Gottheit
sein muß. Wenn also Ler Mensch sein Maß restlos ansschöpft, — und das
geschieht nur, wenn er sowohl seinen Leib wie seinen Geist verwirklicht, diesen
aber in seinem höchstmöglichen Maße: in der unegoistischen Anschauung
und Erkenntnis der Welt, und im unegoistischen Glauben an Gott —
dann fließen Gott und Mensch in Eines zusammen; dann wird Gott
Mensch, und zugleich der Mensch Gott. Wie aber könnte solche höchste
Selbstverwirklichung ohne „Nnglück" und „Böses« geschehen, solange der
Mensch sie nicht sonnig als seine einzige Sendung erkennt, weil der Leib
iu ihm gierig und vor allem sich selbst, also Egoismus will, und jeder andere
Mensch ebcnso gierig wieder sich selbst, also wieder Egoismus will, —
sohin weder der Leib im einzelnen Menschen, noch der einzelne Mensch in der
Gemeinschaft aller weiß, daß, sich selbst verwirklichen, nichts anderes heißt,
als: im höchsten Ausmaß von Tiefe und Weite Mensch sein, zugleich aber
alles dazu tun, damit auch jeder andere im selben Maße sich selbst ver-
wirkliche. ,

Diese Wahrheit — diese heroisch goldene Rolle des Menschen — und
die andere: daß wir heute noch mitten im Tunnel drin bohren, durch
welchen wir dereinst zur allgemeinen Empfängnis dieses Lichts durch-
 
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