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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 35.1992

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Wölke, Hansjörg: [Rezension von: Latacz, Joachim (Hrsg.): Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick.]
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https://doi.org/10.11588/diglit.35880#0039

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Das Bild, das wir von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen in diesen
Siedlungen erhalten, paßt nicht schlecht zu dem, was Homer schildert: Viehzüchter mit recht
geringem Ackerbau,,,deren Exponenten die reichlich freie Zeit gleichsam nach homerischer
Art im Haus ihres Oberhauptes mit ausgiebigen Gelagen hinbringen" (Blome S. 51). Auch die
Art der Bestattung in spätgeometrischer Zeit, die so gut zu den Schilderungen Homers paßt
und die man bisher von ihnen beeinflußt glaubte, war offenkundig bereits vorher gebräuch-
lich: in der Ilias ist also ,,lediglich formuliert und sicher dichterisch gesteigert, was lange zu-
vor tatsächlich geübter Brauch war" (Blome S. 53). Hieran wird wie an vielem anderen deut-
lich: die homerischen Epen spiegeln Mykenisches nur ganz vereinzelt; sie sind vielmehr von
den Verhältnissen der ,,dunklen Jahrhunderte" geprägt.
Im wesentlichen in der Zeit, an die sich der epische Dichter noch erinnern konnte, wurde ei-
ne informelle Hierarchie lokaler Anführer mit ihren Gefolgschaften, die auf persönlicher Lei-
stung und auf Loyalitäten beruhte, abgelöst durch eine stabile Führungsschicht, die sich, bald
auch institutionell fixiert, die Macht teilte. Der frühere Zustand galt als heroischer und wurde
daher primär dafür verwendet, die Lebensgewohnheiten der Helden zu schildern. Er ermög-
licht es der Forschung, die sozialen Strukturen der,,dunklen Jahrhunderte" zu erhellen. Aber
Schilderungen des späteren Zustandes stehen daneben; hinter den homerischen Kampfschil-
derungen wird eine Kampfwirklichkeit sichtbar, in der nicht ritterliche Einzelkämpfer mit lose
gruppierten Haufen, sondern die in phalanx-ähnlicher Ordnung kämpfenden Massen die Ent-
scheidung herbeiführen (Kurt A. Raaflaub nach Forschungen von Joachim Latacz; teilweise
anders Fritz Gschnitzer).
Die Erforschung der dichterischen Eigenart von Ilias und Odyssee bewegt sich „in der Richtung
einer Transformationstheorie" (Uvo Hölscher S. 420): wie werden traditionelle Elemente wie
Formeln, typische Szenen, Handlungsschemata und individuelle, bereits vorliegende Gestaltun-
gen (eine Aithiopis, eine Memnonis oder was es gegeben haben mag) bewußt gestaltend und
strukturierend in ein Großepos wie Ilias und Odyssee transformiert? „Unter der Perspektive der
Transformation könnten sowohl die genetische und die strukturale Betrachtungsweise wie auch
die analytische und die unitarische Methode zusammenfinden." (Hölscher ibid.)
Wer konsequent die Kategorien der oral poetry an Ilias und Odyssee anlegt, kann nicht aner-
kennen, daß ihr Autor ihrer Abfassung einen umfangreichen und komplexen Plan zugrunde
gelegt, daß er sie (wie z.B. Schadewaldt es gesehen hat) in einem Netz weitgespannter Struk-
turen konstruiert hat, da er derlei weder beabsichtigt habe noch dazu in der Lage gewesen
sei. James P. Holoka versucht, dem Dilemma mit einem Kunstgriff zu entgehen: Dadurch,
daß Ilias und Odyssee niedergeschrieben worden seien, hätten sie eine „ontologica! transfor-
mation" durchgemacht. Das verleihe das Recht, sie losgelöst von der Intention des Autors al-
lein unter den Kategorien der Schriftlichkeit zu betrachten. Wenn man also jetzt komplexe
Strukturen entdecke, seien sie eben da, ob der Autor sie nun bewußt geformt habe oder
nicht. Hinter einer solchen Position steht zweifellos die umkämpfte Frage nach der Art der
Existenz eines Kunstwerks. Aber ist eine solche Betrachtungsweise nicht das Ende der Philolo-
gie als historischer Wissenschaft? Und entzieht sie nicht auch dem altsprachlichen Unterricht
die Legitimation, die gerade auf der historischen Distanz zum Lerngegenstand beruht?
Natürlich kann man guten Unterricht über Homer erteilen auch, ohne dieses Buch durchge-
arbeitet zu haben. Aber wer insbesondere auf historischem und archäologischem Gebiet den
neuesten Stand der Forschung einbeziehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Tolle,
lege! DR. HANsjöRG WöLKE, Görresstr. 26, W-1000 Berlin 41

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