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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 35.1992

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Aktuelle Themen
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Westphalen, Klaus: Latein als Basisfach europäischer Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.35880#0062

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Latein a!s Basisfach europäischer Kuitur

Professor Erwin Wolff, Ordinarius für englische Philologie an der Universität Erlangen, stellte be-
reits 1975 eine rhetorisch gemeinte Frage, deren Beantwortung uns heute, unmittelbar vor dem
Übergang in eine einheitliche europäische Wirtschaftsregion, scheinbar noch leichter fällt: ^Sol-
len wir etwa ausgerechnet in dem historischen Augenblick, in dem sich trotz aller Rückschläge
ein politisches Zusammenwachsen der europäischen Völker abzuzeichnen beginnt, die gemein-
same Verständigungsbasis dieses jahrhundertealten und gerade heute so notwendigen Ge-
sprächs, nämlich das Lateinische, vernichten, indem wir es der Vergessenheit anheim fallen las-
sen, bzw. es als nachrangig gegenüber den modernen Fremdsprachen behandeln?" (in: Anre-
gung 1975, 313)
In den Worten Wolffs scheint das Argumentationsmuster, dessen sich die Freunde des Lateinun-
terrichts bedienen können, klar vorgegeben. Es besteht im wesentlichen aus drei Thesen, die un-
ter dem Aspekt der europäischen Integration Schritt für Schritt zu einer neuen bildungspoliti-
schen und bildungstheoretischen Legitimation des Faches Latein hinführen:
— Das integrierte Europa bedarf nicht nur einer politischen und wirtschaftlichen Verklamme-
rung, es bedarf auch einer kulturellen Identität, die es davor bewahrt, in puren polit-
ökonomischen Pragmatismus und Egoismus zu versinken.
— Die kulturelle Identität Europas bestimmt sich zwar gegenwärtig durch eine scheinbare Viel-
falt nationaler Subkulturen; in Wirklichkeit geht seine Identität aber auf gemeinsame geistige
Wurzeln zurück. Neben dem Griechentum und dem Christentum bilden die lateinische Spra-
che und die römische Literatur den breiten Sockel der transnationalen europäischen Kultur.
— Wie kein zweites Schulfach bietet der Lateinunterricht eine Fülle sprachlicher, literarischer,
geschichtlicher und humanistisch-ethischer Möglichkeiten, die Schüler europäische Identität
erfahren zu lassen. Die Didaktik des Faches hat eine große Tradition im Ausschöpfen dieser
Möglichkeiten; diese gilt es zu reaktivieren.
Die Binnenlogik eines solchen Dreischritts leuchtet ein. Überdies läßt sie sich im einzelnen
durch eine nicht geringe Zahl von schulpolitischen, bildungstheoretischen und allgemeindidakti-
schen Argumenten stützen, wie ich das in meinem Buch ,,Basissprache Latein" (Bamberg 1992)
versucht habe. In den hier zu diskutierenden Überlegungen will ich es mir allerdings schwerer
machen. Die Latinität als Pfahlwurzel der europäischen Kultur steht um die auf uns zukommende
jahrtausendwende, so vermute ich, zwischen den Polen der,,Vergessenheit" (Wolff) und der ^Re-
naissance": Vergessenheit, wie sie in nicht wenigen Ländern des europäischen Kontinents bereits
den Lateinunterricht und mehr noch den Griechischunterricht zugedeckt hat (vgl. Wülfing 1986),
und Renaissance, wie sie angesichts der geistigen Situation unserer Zeit und ihres wachsenden Be-
dürfnisses nach Haltepunkten vorausgesagt werden könnte ( vgl. Gaitanides 1955). Im folgenden
möchte ich die drei Thesen systematisch und kritisch überprüfen, danach noch einmal zusammen-
fassend die Möglichkeiten des Vergessens bzw. der Wiedergeburt ins Auge fassen.
1. Europa und seine Kuitur: Schwierigkeiten der identitätsbestimmung
Wenn wir Latein als ein Basisfach europäischer Kultur bezeichnen, geben wir vor, wir hätten ei-
nen Begriff von dem, was europäische Kultur sei. Doch beginnen hier schon die Schwierigkeiten.

* Vortrag, gehalten auf der Tagung ,,Latein 2000" in Dillingen (16. — 20.3.1992)

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