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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 35.1992

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Westphalen, Klaus: Latein als Basisfach europäischer Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.35880#0063

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Europa, was ist das eigentlich? Ein museales Gebäude, in dem die Schätze einer vergangenen
Kultur gezeigt werden, oder, wie Michail Gorbatschow meinte, ein stattliches Haus mit Zimmer-
fluchten, in denen auch die ehemals kommunistischen Staaten ihren Platz finden würden? Oder
vielleicht erst ein ,,im Rohbau befindliches Volker-Domizil", das einstmals eine ,,Gemeinschafts-
unterkunft" werden soll (Dedecius)?
Mit geographischen und ethnographischen Kriterien mag sich der Kontinent Europa ja einigerma-
ßen deutlich beschreiben lassen, auch wenn es uns zur Zeit wohl noch schwer fällt, etwa die
Ukraine als zweitgrößten Staat Europas aufzufassen. Die unselige Spaltung Europas in die westli-
chen Länder und den kommunistischen Herrschaftsbereich hat die im Begriff Abendland (Okzi-
dent) historisch vorgegebene Westorientierung Europas noch verstärkt. Sind nicht in unseren —
westlichen — Augen die ,,eigentlich" europäischen Nationen jene, die im wirtschaftlichen Kraft-
zentrum der EG stehen oder wenigstens dorthin streben? Gilt nicht ein gleiches vom europäi-
schen Teil des po/itisch-mi/itärischen Kraftzentrums der NATO?
Ich bin versucht zu sagen, gegenwärtig sei ein Volk um so europäischer, je weiter westlich es lie-
ge, je besser seine Ökonomie entwickelt und je fester sein politisches System in westliche Bünd-
nisstrukturen eingebettet sei. Mit einer derartigen — natürlich fragwürdigen — Bestimmung zeigt
sich aber auch, daß europäische Identität von außen gesehen kein Compactum, sondern besten-
falls ein Continuum ist. Das Continuum erstreckt sich zwischen den Polen der weitgehend ,,euro-
pafernen" Staaten der GUS bis hin zu den Kerngebieten in Mittel-, Süd- und Westeuropa, es spie-
gelt in seiner unendlichen Verschiedenheit die ,,Unsicherheit des Raumbildes von Europa" (Wei-
denfeld 1985, 17).
Wenn unsere Zwischenbilanz stimmt, daß Europa weder räumlich noch ökonomisch noch poli-
tisch eine auch nur annähernd geschlossene Identität aufweist, so bleibt uns nur der Neuansatz,
nach einer einheitlichen kulturellen Identität Europas zu suchen. Sie wäre dann das geistige Kraft-
zentrum, auf das sich die nationalen Subkulturen zentripetal hinbewegen.
Europas kulturelle Identität
Aber auch der Gedanke an eine geistige Gemeinschaft der europäischen Staaten ist strittig. Die
Kommission der europäischen Gemeinschaften hat in ihren ^Mittelfristigen Leitlinien 1989 —
1992" nur gefordert, ,,die reiche Vielfalt der Bildungstraditionen in der Gemeinschaft zu wahren
und zu respektieren, wobei dieses (!) gemeinsame Erbe optimal zu nutzen ist, um in der Zukunft
höhere Standards zu erreichen". Die Instrumentalisierung der Bildung zu wirtschaftlichen
Zwecken wird aus dem Zitat nur allzu deutlich. Aber auch führende Vertreter der Geisteswissen-
schaften äußern eine ähnliche Auffassung von der europäischen Kultur. So urteilt der Turiner Phi-
losoph Gianni Vattino: ,,Wenn es heute eine europäische Identität gibt, dann ist es eine Identität
der Differenzen. Europa ist ja in seiner Geschichte dadurch entstanden, daß es sich auf die Idee
seiner Unterschiede gründete; erst auf diesem Boden ist die Idee einer einheitlichen Kultur ent-
standen" (Ev. Komm. H. 8/1990, 467).
Vattinos Auffassung läßt sich historisch nicht halten, wie wir im folgenden noch sehen werden.
Ich kann mir im übrigen auch keine Identität vorstellen, die lediglich aus einer unbestimmten
Zahl unbestimmter Differenzen besteht, sozusagen ex diversitate rerum. Damit aber stoßen wir
auf das grundlegende Dilemma einer Identitätssuche für Europa, insofern diese Suche von der
Gegenwart ausgeht. Alle Beschreibungen der geistigen Situation des Kontinents heute stimmen
darin überein, daß in Europa (und nicht nur dort) eine Atmosphäre des Umbruchs, der Unbe-
stimmtheit und Pluralität bzw. Diversität herrsche, die es im Grunde verbiete, eine Gesamtdeu-

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