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Bibliotheca Hertziana [Hrsg.]; Bruhns, Leo [Gefeierte Pers.]; Wolff Metternich, Franz [Gefeierte Pers.]; Schudt, Ludwig [Gefeierte Pers.]
Miscellanea Bibliothecae Hertzianae: zu Ehren von Leo Bruhns, Franz Graf Wolff Metternich, Ludwig Schudt — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 16: München: Schroll, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48462#0067

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Zum Juvenianus-Codex der Biblioteca Vallicelliana

63

III
Ein einziges Bild im Juvenianus-Codex ist nach Technik und Stil von völlig anderer Art: die Seite mit
dem Evangelisten Johannes (fol. 87 r; Abb. 34). Die Figur ist, gegenüber den Deckfarbenmalereien aller
anderen Bilder, als sepiabraune Zeichnung mit leicht rötlicher Lavierung ausgeführt21, ungerahmt, und
sie ist im Stil karolingisch im engeren Sinne, das heißt, sie gehört dem im Frankenreich bis nach Ober-
italien herrschenden Kunstkreise an.
Die sitzende Gestalt ist von weicher Fülle, lebensvoll, räumlich in sich abgerundet. Das Sitzen, das
Agieren der Hände, die dazu kontrapostische Rückwendung des Kopfes aus der Schulter heraus, die
Schrägwendung, der durch sie entstandene Körperraum und die Durchführung im einzelnen zeugen von
einem, den anderen Bildern völlig fremden Verständnis für „organische“, ganzheitlich beseelte Leiblich-
keit. Doch darf diese nicht im Sinne der späten Antike oder der Neuzeit verstanden werden. Nicht vom
Akt, dem Knochenbau und den Gelenken her, auch nicht optisch als Projektion beobachteter Wirklich-
keit ist diese Gestalt gewonnen, sondern aus einem Ballen, Zusammenfassen, Verdichten weicher Fülle.
An den Schultern, Händen, dem Oberschenkel wird das besonders deutlich. Der Körper ist wesentlich
genauso gebildet wie das pralle Kissen. Charakteristisch ist, wie nicht nur die ganze Gestalt, sondern
immer wieder auch Einzelheiten nach Zusammenfassung in sich streben: die Falten, besonders in der
Leibesmitte, die den Oberschenkel umrundenden Kurven, selbst die Haarbüschel, die Kassetten im
Sitz und die Teile des Lesepultständers. Besonders in der Rückenpartie verschieben sich die weich
geballten Formen gedrängt gegeneinander. Spezifisch karolingisch sind ebenso das klare großäugige
Gesicht mit der Schnurrbarttracht, den starken Kinnladen, dem Ausdruck von Vitalität und Reinheit
zugleich, wie das füllige Blattwerk der Buchstütze, das fast einer Frucht gleicht. In dem anteilnehmenden
Blick, den Händen, die zum Schreiben ansetzen, und zugleich der richtungslos allseitigen Bewegtheit
liegt eine Beseelung, ein Erfassen der personhaften Ganzheit, das von allen anderen Figurenbildern
im Codex durch eine Welt getrennt ist22.
Im Zeichenstil, in dem klaren und flüssigen Duktus, in der Art, wie dieser zugleich das Körperliche sicht-
bar macht und ornamentale Schönheit in sich entfaltet, auch darin, wie die Falten die Glieder umgreifen,
läßt sich dieses Blatt etwa dem astronomischen Codex vat. lat. 64523 vergleichen. In den großen karo-
lingischen Buchmalereien gibt es viele Ähnlichkeiten mit dem Johannesbild, ohne daß wir dieses einer
bestimmten Schule fest zuordnen könnten24. Doch wird durch diese Vergleichsbeispiele eine Datierung
21 Der mittlere Rahmen der Kassetten vom Sitz ist mit einem rötlichen Strich gegeben. Die Figur ist der großen leeren Seite merk-
würdig wenig eingepaßt: nicht nur ungerabmt, sondern auch aus der Mitte der Seite etwas nach oben rechts verschoben.
22 Während die Miniatur-Vollmalereien anspruchsvolle, wenn auch den Mosaiken gegenüber nicht ganz exemplarische Zeugen
ihres Kunstkreises sind, ist der Evangelist Johannes ein Erzeugnis seines Kunstkreises von verhältnismäßig leichtem Gewicht,
und doch den anderen Bildern im Rang noch weit überlegen.
23 F. Saxl, Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften des lateinischen Mittelalters in römischen
Bibliotheken. Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg. 1915, 6./7. Abh., Heidelberg 1915, S. 71, Abb. 1.
21 Das Motiv des zurückgewendeten Kopfes bei erhobenem rechtem Arm (zugleich ähnlichem Gesichtstypus und vergleichbarem
Pult) begegnet am ähnlichsten in dem Apostel rechts unten auf fol. 15r von ms. A. 5 der Biblioteca Vallicelliana {Abb. 36). Der
Johannes vom Juvenianus-Codex wirkt wie aus einer solchen Reihe herausgezeichnet. Doch ist dort alles in einem erregteren, den
antikisierenden Vorbildern ferneren Stil vorgetragen (zur Lit. s. Anm. 34). Dieser Codex, wohl in Italien entstanden, ist aber ganz
von westfränkischen Werken abhängig. (Eine Ableitung des Johannes etwa aus Oberitalien würde durch den soviel härteren Stil
des Egino-Codex aus Verona nicht gestützt.)
Mit Evangelisten der Ada-Schule lassen sich die Art des Sitzens und Agierens, Einzelheiten in der Zeichnung der Beine und
Hände, die Kassettierung des Sitzes als solche, die Form von Pult und Blattwerk vergleichen; s. besonders die zurück, jedoch nach
oben gewendeten Evangelisten (A. Boinet, La miniature carolingienne I., Paris 1913, PI. III, VIII, X, XVII, XXI; der Akanthus
ist noch ähnlicher auf Elfenbeinwerken der Ada-Gruppe, s. A. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karo-
lingischen und sächsischen Kaiser I, Berlin 1914, Nr. 10, 14, 39); doch fehlt die Häufung der Motive in der Art der reiferen Ada-
Hss., wie auch die kräftige gleichmäßige Konturierung schon des Godescalc-Evangelistars.
In dieser mehr organischen Auffassung berührt sich die Zeichnung des Johannes mit der Frühstufe der Reimser Schule (ehern,
sog. Palastschule), in der sich auch vergleichbare Einzelheiten der Faltengebung und Hände und die gedrungenen, z. T. schnurr-
bärtigen Köpfe auf dicken Hälsen finden (Wiener Reichsevangeliar, Abb. H. Fillitz, Die Insignien und Kleinodien des Heiligen
Römischen Reiches, Wien-München 1954, T. 55, 57, 59, 61) und auf deren weiteren Umkreis auch die Ähnlichkeiten mit dem
ms. A. 5 der Vallicelliana (s. Abb. 35 u. 36) sowie, in Gesichtstyp bzw. Kopfneigung, dem frankosächsischen Lotharpsalter
(London, Br. M. Add. 37768; Abb. Boinet PL LXXIX, beide) weisen. Doch fehlt dort wieder der gleichmäßig ornamentali-
sierende, flüssig klare Zeichnungsstil des Johannes.
Es scheint sich bei diesem um eine neben Ada- und „Palast“-schule dritte karolingische Ableitung aus byzantinisch-antikisierenden
 
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