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Zeitschrift für christliche Kunst — 29.1916

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Ein verkannter mittelrheinischer Pietatorso
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https://doi.org/10.11588/diglit.4343#0083

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70

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST. Nr. 5

ein nacktes Bein sehen läßt. Es ist frontal dem Beschauer zugekehrt und hält
die rechte Hand lehrend erhoben, während es auf der linken die Weltkugel trägt.
Den in herben Formen geschnitzten Körper der Madonna umschließt ein knapp
anliegendes Kleid mit hohem Brustgürtel und ein schlichter Mantel, der vor dem
Schöße leicht gefaltet ist, und den unten in aufgelegtem Stuck ein Spruchband
als Saum umzieht. Vor der Brust ein Medaillon, ebenfalls in Stuck. Der Fries
des Sockels, der mit der Figur eins ist, ist ringsum mit Rosetten geschnitzt.
Polychromiert. Wahrscheinlich mittelrheinisch. 2. Hälfte
des XIV. Jahrh. — Erworben in Freiburg, mit Nr. 117 verwandt." (Vgl.
Abbildung.)

„Mit Nr. 117 verwandt!" Das hat der Verfasser des Katalogs gesehen. Er
hat es noch einmal betont in dem Vorwort „Die Skulpturen der Sammlung
Roettgen2." Dort sagt er: „Die sitzende Madonna mit Kind (Nr. 119), die in
einem Buche liest, ein für diese Zeit seltenes Motiv, ist wohl ebenfalls am Mittel-
rhein entstanden und der Pieta in manchem verwandt." Die Pieta (Nr. 117) ist
keine andere als „das Glanzstück der Sammlung", wie der Verfasser ein paar Zeilen
weiter oben richtig bemerkt. Er hat das große Verdienst, dieses Stück, das Clemen
und Lübbecke für kölnisch ansahen, als mittelrheinisch erkannt zu haben3. Er
hat auch auf die verwandte Pieta im Dom zu Wetzlar hingewiesen. Und von ihr
ausgehend hat er auch die Figur, um die es sich hier handelt, in ihrer Herkunft
richtig bestimmt. Umso auffallender ist es, daß er sie nicht auch als eine Pieta
erkannte.

Schon das Motiv, das nach seiner eigenen Ansicht „für diese Zeit selten ist"
(ich kenne es überhaupt nicht!), hätte den Verfasser stutzig machen müssen, noch
mehr das Kind und sein Kleid, denn der „aufgeschlagene Schlitz, der ein nacktes
Bein sehen läßt", ist denn doch ein nicht minder seltenes Motiv für diese Zeit,
aus der die thronenden Madonnen mit stehendem Kind auf den Knien in der
Sammlung Roettgen häufiger begegnen. Da ist das aparte Stück Nr. 704, da sind
Nr. 695 und Nr. 1646, lauter charakteristische Vertreter des weitverbreiteten
Typus. Das Motiv findet man bei ihnen so wenig wie anderswo. Bei allen aber
steht das Kind auch ganz anders — es ist immer nach rechts schreitend gegeben! —
ist sein Gewand ungegürtet, liegt über der Brust flach an und zeigt eine belebtere
Faltengebung. Die beiden unberührten Stücke Nr. 70 und Nr. 164 zeigen aber auch
die ganz verschiedene Handhaltung des Christusknaben. Sein rechter Arm ist
vor der Brust der Mutter ausgestreckt, die linke Hand hält ein Täubchen. Auch
das ist charakteristisch für den Typus. Von dem Kopf des Kindes braucht gar nicht
geredet zu werden. — Das Kind ist vom Kopf bis zu den Füßen neu, was freilich
durch die Polychromie verschleiert wird, was aber, wie eben gezeigt wurde, die
vergleichende Stilkritik erkennen läßt. Darüber, daß die Hand der Muttergottes
mit dem Buch ebenfalls neu ist, braucht man nach dem eben Gesagten kein
Wort weiter zu verlieren.

2 Ebenda vor S. 1.

3 Die ältere Literatur darüber ebenda S. 25. Abb. S. 24 Taf. 2 und 35.
J Abb. Taf. 5.

5 Abb. Taf. 6. Ich werde über diese Figur, die sich jetzt in meinem Besitz befindet, an
anderer Stelle sprechen.

6 Abb. Taf. 14.
 
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