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Zeitschrift für christliche Kunst — 29.1916

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Steinmetz, A.: Wahrheit und Schönheit in der Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4343#0150

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Nr. 9 ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST.

129

WAHRHEIT UND SCHÖNHEIT IN DER

BAUKUNST.

(Mit Tafel VIII und 25 Abbildungen.)
Von A. Steinmetz, Arch., z. Z. Odenkirchen.

Für alles menschliche Streben gilt das unumstößliche Gesetz, daß nichts
auf der Welt vollkommen sein kann, daß jedes Ding seine zwei Seiten
hat. Wo bei der Erzeugung eines Gebildes irgendwelcher Art dieser
oder jener Gesichtspunkt zu seinem vollen Rechte gelangt, müssen andere not-
wendig zu kurz kommen. Die Folge solch einseitiger Bevorzugung ist, daß jeder,
der dieselbe nicht billigen kann oder gar eines der zurückgesetzten Momente
an erster Stelle sehen möchte, sogleich bereit sein wird, das betreffende Erzeugnis
als unzulänglich, wenn nicht als völlig verfehlt, zu betrachten.

Nirgendwo tritt dieser Widerstreit klarer und schärfer zu Tage, als in der
Baukunst. Wahrheit und Schönheit scheinen sich einen ewigen Kampf geschworen
zu haben, einen Kampf, in dem der Sieg hin- und hergeschwankt hat, auch wohl
zeitweise ein Waffenstillstand eingetreten ist, nur aber, um immer wieder neue
Stürme heraufzubeschwören. Gerade in einer Zeit, wie der unserigen, die sich
in bezug auf alle künstlerischen Fragen im Zustande des Garens, des Suchens,
der Unentschiedenheit befindet, treten natürlich die Gegensätze besonders
leidenschaftlich, verwirrend und zersetzend hervor.

Wahrheit und Schönheit: Wer sich mit diesen Begriffen in ihren Beziehungen
auf die Baukunst näher bekannt machen und einen Standpunkt für die Abwägung
ihres gegenseitigen Verhältnisses gewinnen will, muß sich in das Zustandekommen
eines baukünstlenschen Gebildes Einblick zu verschaffen suchen. Drei Dinge
sind es, die bei diesem Gestaltungsprozeß ihre Berücksichtigung verlangen:
der Gebrauchszweck, die Herstellungsweise und die for-
male Durchbildung. Die Vollkommenheit läge natürlich in der gleich-
mäßigen Bewertung aller drei Momente, in ihrer harmonischen Durchdringung
und Ergänzung derart, daß, weit entfernt, sich gegenseitig im Wege zu stehen,
vielmehr alle drei einander unterstützen und in der Erkenntnis der Gemeinsam-
keit ihrer Interessen wechselseitig alles zu ihrer restlosen Geltung einsetzen
würden. Da aber dieser Vollkommenheitszustand unerreichbar ist, so muß an
Stelle neidloser Ergänzung der Kampf gegen Übervorteilung treten, und in
diesem Kampf hat, wie gesagt, die Entscheidung stets hin- und hergeschwankt.

Je nach der Art der in Frage kommenden Gebilde stufen sich natürlich die
Schwierigkeiten des Ausgleichs ab, und zwar in erster Linie entsprechend der
Einfachheit des Gebrauchszweckes. Ein Wasserkrug z. B. stellt an seine Ver-
wendbarkeit nur die Forderung möglichster Dichtigkeit, Haltbarkeit und be-
quemer Handhabung. Der Gebrauchszweck also und die Herstel-
lungsweise, d. h. die Wahl des Stoffes und dessen Verarbeitung, bedingen
sich gegenseitig und mit organischer Notwendigkeit erwächst daraus die for-
male und farbliche Durchbildung, wobei die Frage der An-
passung an die umgebenden Dinge, etwa ähnliche Gefäße, unter denen der Krug
bei seinem Nichtgebrauch Aufstellung finden soll, nur eine untergeordnete Rolle
 
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