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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,1.1926-1927

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1927)
DOI Artikel:
Berrsche, Alexander: Beethoven: ein Erziehungskapitel
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https://doi.org/10.11588/diglit.8881#0404

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XXXX.

Beechoven

Ein Erziehungskapitel
Von Alerander Berrsche

ein Werk bedarf unsercs armen WorLes nicht. Es umgibt uns wie eine

^zweike ITatur, wie ein höheres Element unseres Daseins, cine geheimnis-
voll-vertraute Sphäre, aus der es zu allem unserem Sein und Tun, zu dcm
Schasfen und Kämpfen unserer Werktagc, zu der Skille und zu den Erfchüt-
terungen unsercr Einsamkeit, zu den höchften Freuden und leHten Ängslen
unseres Erdcnweges mitklingt in vergeiftigter Nesonanz, befeuernd und tröftcnd.
Was dieser Welt dcr Töne solche Macht über uns gegeben hat, wir wissen
es nichk. Nnr das Eine wissen wir, daß wir seelifch verkümmern und verdorren
müßken, wenn es möglich wäre, uns daraus zu vertreibcn.

Ilnd dcnnoch wollte nie die Frage verslummen, worauf das Besondere, Un-
vergleichliche dcr Beethovenfchen Musik beruhe, das ihr jene weltumspan-
nende, seclcnbewegende Gewalt verleiht. Tausende und Abertausende habcn
sich nm eine Antwort bcmüht: Dichter, Musiker, Philosophen. Aber weder
die fchwärmerifche Sehnsuchk der Romantiker, noch die bohrenden Ilnkersu-
chungcn der Äfthetiker, noch die >lille Ilhrmacherbehutsamkcit der Analytikcr
haben das Rätsel zu lösen vermocht. Fhncn allcn ift es ergangen wie den
Kindern im Märchen, die dorkhin gehen wollen, wo Himmel und Erde zu-
sammenftoßen. Aber wie der Himmel zurückwich, je näher die Kinder ihm
zu kommen wähnken, so ftehk auch am Ende des weiteften Weges, der fcharf-
sinnigslcn Gedankenarbeit die alke Frage in alker Geslalt wieder da. Reur die
Mnsik selbft lebk, glüht und leuchtet, und diewcil wir zergliedern und abwägen,
ziehen die Klänge des Meifters unablässig als ein Strom von Kraft, Geisl
und Gütc durch die Herzen der Menfchen, aber sie verraten ihr Geheinmis
nicht. Es ift, wie weun cin milder Gokt über unsere Bcmühungcn lächelte.
Fn meinen Skudentenjahrcn habe ich der Vorlesung eines alten Philosophen
zugehört, der einnial den Begriff der Religion so definierte: „Religion ift die
innere Erfahrung dcrjcnigen Menfchen, die wissen, was Religion ift." Fch
habc in dem Übermut meiuer grüncn Semefter dicse DefiniLion für eine Aus-
rcde und Verhöhnung gehalten. Heute weiß ich es besscr. Der alte Herr war
nicht nur gefchult genug, um eine formal cinwandfreie Dcfinition zu geben,
sondern auch wissend genug, um irgend cine der zahlloseu vorhandeuen zu
zitiereu. Daß er beides vcrfchmähte und sich fcheinbar hinter ein Paradoxon
zurückzog, gcfchah aus Ehrfurcht vor dem Gegenftand und aus tiefcm Erfassen
dcr Grenzcn menfchlicher Erkcnntnis.

Weun ich heutc vor jungen Leutcn über Becthoven zu sprechcn hättc, würde
ich ihnen über das Wesen sciner Musik eine ganz ähnliche Defimtion vor-
tragcn, mid ich würde innner wieder zu dcm Schluß kommen, daß das Erfassen

Märzhefl 1927 (XXXX, 6^

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