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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1924)
DOI Artikel:
Trentini, Albert von: Väter und Söhne
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0106

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Väter und Söhne

der Vergangenheit lebten wir nicht; wir benrteilen sie in der Gegen-
^ (wart auf Grund von Fiktionen. Zu der Zeit unserer eigenen stärksten
^^geistigen Kraft fehlt uns die Distanz; wir beurteilen sie besangen. Die
Zeit hingegen, deren Iugend sozusagen in unsere Vierziger Iahre herein-
wächst, beurteilen wir mit dem Ressentiment halb der Idealisten, die ihrer
Iugend Götter entthront sehen, halb der pietätlos Erfahrenen, die skeptisch
von ihnen selber schon erkannte Irrtümer noch einmal blühen sehen. Unser
Urteil über die um zwanzig Iahre Iüngeren solltedaher höchstens summarisch
sein und lauten: die Geister dieser Geburt, und die Zeit, die sie erfüllen,
stehen in einem anderen Zeichen, als in welchem wir die unsere erfüllten!

Viel unvorsichtiger ist nun freilich das Urteil, welches nicht aus der histo-
rischen Betrachtung, sondern aus dem Temperament entspringt; der Anter-
schied zwischen „Damals" und „Ietzt" — dieser von jeder Generation, wenn
sie in die Mitte kommt, mit geradezu kindischer Gedankenlosigkeit bejammerte
Unterschied — wird da wie ein körperlicher Schmerz empfunden. Und dieser
Schmerz scheint unzugänglich jeder Äberlegung, blind und taub gegen die
Binsenwahrheiten: daß Iugend stets dem Alter- und Reiferwerden voran-
ging; daß sich der Schritt der Kultur niemals auch nur einen Pappenstiel
um krampfhaftes Iungbleibenwollen oder Nichtjungbleibenwollen geküm-
mert, sondern mit gemächlichem Zuschauerlächeln stets zugelassen hat, daß
gelebt oder gestorben werde,- daß keine heutige Roheit neu, keine heutige
Wahrheit noch nie dagewesen ist; und kein absoluter Kanon für Schöpfungen
des Geistes jemals bestanden hat. Nun gehört die Majorität der Geister
einer Epoche, welche „Zeit"ausmachen, stets den Schmerzempfindenden, und
nicht den Schmerzerregenden an; die „Neuen", die „Söhne", sind darum
entsprechend maßlos erbittert über die Tob- und Hohnsucht der viel zahl-
reicheren Väter, so daß sich zwei Spektakel jeder neuen Zeit ergeben: die
durchschnittlich sünfundvierzig- oder mehr-Iährigen, welche die „Iungen"
verbrennen, und die durchschnittlich sünfundzwanzig bis dreißig-Iährigen,
welche die „Alten" ausräuchern.

Erprobt man diese Alltagserfahrungen an dem Felde, auf welchem heute
das meiste Geschrei laut wird: an der „neuen Kunst", so sieht man erst, wie
wenig übertrieben sie gefaßt ist. Was den Schmerz im älteren Manne aus-
löst, der noch nicht Iahre genug hat, um unverwundbar zu sein, ist in der
Dichtkunst, in der bildenden und in der Musik dasselbe. Stelle man ihn, zum
Deispiel, einsm „expressionistischen" Gemälde gegenüber, wie es Iüngere
heute schon „überholt" finden; ihn, dem von den Präraffaeliten angefangen
bis hinauf zum Impressionismus alles noch verdaulich war; dem es nur des-
halb noch verdaulich war, weil er dies Alles (diesen Grund kennt er aller-
dings nicht!) noch vor der Mitte seines geistigen Lebens, vor seinem
„Fertigsein" schön folgerichtig als Zeitgenosse, — nein, als Mitbetei-
ligter miterlebt hat; vor jenem Augenblick also, da ihm endlich von
Kunst ein Grundsatz, eine Äberzeugung, und auch das Temperament für

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