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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1896

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Heft 3
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Volbehr, Theodor: Englisch oder gothisch?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7909#0033

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20. Kopfleiste von I. I> i e tz.

Don Or. Th. Volbehr, Magdeburg.

l s hat einiger Ueberwindung bedurft, dieser
wunderlichen Gegenüberstellung „englisch
oder gothisch" die Ehre einer fettgedruckten
Ueberschrift zu Theil werden zu lassen;
denn — um die Wahrheit zu gestehen —-
ich halte diese Frage für ziemlich thöricht.
Aber sie ist schon mehrfach gestellt worden und sogenannte
„Berufene" haben mit großein Feuer Partei ergriffen und
zu Gunsten des „englisch" oder auch zu Gunsten des
„gothisch" ansehnliche Lanzen gebrochen.

Man könnte glauben, daß sich diese Streitfrage auf
eine Weltsprache bezöge und eine interessante Untersuchung
darüber erwarten, ob das Englische oder das Gothifche
sich leichter den Forderungen eines Volapüks anschmiegen
werde; man könnte auch eine Erörterung über das fpeci-
fisch nationale Element in der englischen Gothik erhoffen.
Die Männer aber, die durch Schrift und Rede jenen Gegen-
satz beleuchten und für das Gothifche oder für das Englische
Propaganda zu machen suchen, die denken lediglich an
das Aunsthandwerk der Gegenwart und in erster Linie
an die Ausstattung der bürgerlichen Wohnung. Das ist
Zweifellos ein höchst interessantes Gebiet; nicht nur dem
Aunstgewerbe-Treibenden, sondern Jedem, der sich ein
behagliches cheim schaffen oder erhalten oder ausgestalten
will. Und so darf man sich durch die Formulirung des
Themas und die eigenthümliche Unklarheit der Worte des-
selben nicht abhalten lassen, den weiteren Ausführungen
der cherren zu folgen. Anregung kann man ja überall
finden, und Anregung braucht der moderne Mensch in
besonders hohem Maaße.

Unter der Bezeichnung „englischer Stil" faßt man
heute die Leistungen zusammen, die in ihren Formen von
äußerster praktischer Brauchbarkeit sind und in ihren
Farben auf die besonderen Zwecke der englischen Land-
häuser, aus ein frisches, ländliches Leben außerhalb der
strengen Geschäftscentren hindeuten.

Nun kommt der Deutsche, dessen Aneignungslust und
Nachahmungstrieb bekanntlich besonders groß ist, sieht
dis netten, praktischen Möbel auf der Veranda eines eng-
lischen Freundes, sieht die reinliche appetitliche Ausstattung
des englischen Schlafzimmers, die treffliche Einrichtung
der Toilettenschränke: entzückt eilt er heim und bekreuzigt
sich hinfort vor jeder Einrichtung, die nicht „englisch" ist,
imitirt für sein Arbeitszimmer die Verandamöbel des
Freundes, verwandelt die geschnitzten Möbel des Schlaf-
gemachs in englische Möbel und ist untröstlich, daß seine
Gattin das alte Erbstück, den mächtigen Aleiderschrank,
nicht preisgeben will.

Für die Richtigkeit seiner Auffassung, daß unter den
Möbeln aller Zeiten kein einziges so „wahrhaft schön,,
sei wie jedes englische Möbel, kann solcher Reformator
der heimischen Wohnung eine große Menge von Zeitungs-
artikeln und schön illustrirten Aufsätzen in Zeitschriften der
verschiedensten Art anführen: es ist also die reine Ver-
stocktheit, die reine Opposition eines schlechten Geschmacks,
wenn man nicht jubelnd seinen Ansichten folgt.

Ja, es ist seltsam genug: manche der trefflichsten, in
allen ästhetischen Dingen überaus feinfühligen Männer
sind durch die Schlichtheit, durch das Appetitlich-Praktische
der englischen Möbel zu fanatischen Herolden des

Zeitschrift des bayer. Aunstgewerbe-vereins München.

*896. Heft 3. (8g. *.)

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