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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1896

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Heft 12
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Gross, Karl: Eine kunstgewerbliche Zeit- und Streitfrage
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Unsere kunstgewerblichen Musterblätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7909#0124

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wer diese nicht versteht, urtheile nicht und gebe sich nicht der Hoffnung
hin, in dieser Richtung jemals Brauchbares leisten zu können.

Die Formensprache, ein treffliches Mort! In ihm liegt der
Schlüssel zur verständigen Beurtheilung des modernen Möllens der

decorativen Kunst. — Die
Sprache der Formen. Mie
die Mortsprache zum Gehör,
spricht die Forinsprache zum
Gesühl; wir können unser
Fühlen in Töne oder Formen
bannen, die unfern Mit-
menschen dasselbe sagen, was
uns bewegt. Aber diese For-
mensprache muß gelernt sein,
gleich der Muttersprache. Es
ist keine todte, es ist eine
lebendige Sprache. Unser
Jahrhundert hat sic aber als
eine todte Sprache behandelt,
wir fühlen allgemach, daß
sie dem Fortschritt unserer
Zeit nicht mehr gerecht wird,
und daher stehen wir auch
am Ende unserer bisherigen
kunstgewerblichen Stilbestreb-
ungcn, während die Kunst
bereits eine neue Sprache
spricht.

Die todte Sprache kann
uns ihre Schönheiten, ihre
allgemein gültigen Gesetze
übermitteln, aber ihr Geist
ist nicht der Unsere. Aus
alten Wörterbüchern hatte
sich bisher unsere Formsprache
ihre Ausdrücke geholt, von
der Antike bis zum Empire
hat sie dieselben durchblättert,
aber sie passen zum wenigsten
mehr in unsere Zeit.

Die Sprache drückt das
Fühlen und Wollen des leben-
den Menschen aus; diese bei-
den Factoren ändern sich im
Laufe der Zeit bedeutend, mit ihnen die Sprache und gleichlebendig
die Formensprache. Ihre Entwicklung kann durch bestimmte Umstände
gehemmt werden und dem Zeitgeist nicht mehr conform sein, sie wird
aber dann um so mächtiger zum Durchbruch gelangen. Und diese
Lrkenntniß des lebendigen Charakters der Formensprachen ist die Trieb-
feder der modernen künstlerischen und kunstgewerblichen Bestrebungen.

(Ihre übertriebene Anwendung finden wir bei einigen Linien- und
Farbensymbolikern der modernen Kunst.)

Ein paar Beispiele können vielleicht die bisher geübte todte und
die lebendige Art und Meise der Formensprache klar machen. Z. B.
Man schlage mit dem Zirkel eine Kreislinie und frage nach der Er-
klärung dieses Gebildes. Der Eine wird das Lexikon seines Wissens
aufschlagen und tiefsinnig dociren: Der Kreis ist das Sinnbild der
Ewigkeit, ohne Anfang, ohne Ende — oder er wird es für einen
Heiligenschein erklären u. s. f. Wer uns aber sagt: Ich fühle diese
von Menschenhand und -Geist geschaffene Linie, die in der Natur nur
unvollkommen vorgcbildet, als etwas unsagbar vollkommenes in ihrer
tadellosen, erhabenen Reinheit, der spricht die lebendige Formensxrache
und hat es tief empfunden, wenn er um eines seiner religiösen Werke
die goldene Kreislinie des Heiligenscheins zieht.

Dder ein anderes Beispiel: wir wandeln durch ein Aehrenfeld,
die schwere, reifende Frucht beugt die Halme. Das begeistert den
Einen, zu erzählen von der Ceres, der Göttin der Fruchtbarkeit und
der Jahreszeiten ac., oder er denkt gar an das Bräuerwapxen. Der
Mann spricht die todte Formensprache. Er fühlt nicht, wie aus dem
scheintodten Samenkorn der Halm sproßte, der von Knoten zu Knoten
Säfte zusammenziehend sich festigte und sich mehr und mehr ver-
jüngend seine Kraft sammelt zur schweren Frucht, die den stolzen
Schaft in schönem Bogen sich demiithig zu beugen zwingt zur Erde,
woher er gekommen. Wer das fühlt, wird die Sprache dieser Form
auch überall da zu verwenden verstehen, wo es dies Empfinden er-
fordert, und wird verstanden werden vom Verständigen.

Dder: Wer beim Anblick eines schönen Halses fühlt, wie die
Linie stolz aus der Basis des Nackens ansteigt, um sich in voller
Rundung zu festigen, das Haupt zu tragen, — der fühlt das Natur-
gesetz , das die Schönheit in sich birgt. Und so könnten noch viele
Beispiele gefunden werden aus dem überwältigenden Alphabet der
Schöpfung und des Geistes, wie sich die Form vereint mit dem mensch-
lichen Fühlen.

In diesem Sinne sollen wir modern schaffen, sollen wir das
Moderne benrtheilen und richten. Kein Mrnament ist zu unscheinbar,
in das nicht ein Funken dieses Geistes gelegt werden könnte, und wir
werden so eine Formensprache unserer Zeit schaffen helfen. Wohl
schwierig ist das Studium, denn die angelernten Formen nehmen zu
sehr unser Empfinden gefangen, aber ein ernstes Wollen und Streben
wird uns bald ein stufenweises freudiges Gelingen fühlen lassen. Von
der Pflanze zum Thier und bis hinauf zum Menschen wird sich eine
Fülle von selbstgefühlten, verwendbaren Schönheiten uns offenbaren
und darbieten, die alle in geistiger Beziehung zu einander stehen.
Dies Fühlen wird uns die Errungenschaften früherer Epochen doppelt
ehren und verstehen lehren, uns aber wird das Bewußtsein eigenen
Fühlens immer neue Freude und Thatkraft schaffen. Das Publikum
aber wird diese gesunde Formensprache bald verstehen lernen und
neues Interesse dem Kunstgewerbe entgegenbringen.

Das und nichts anderes wollen wir modern nennen, dann
werden wir im Urtheil gerecht und in unserem Streben beharrlich sein l

______

lSZ. Eandelaberskizze für ein Treppen-
haus, von Heinr. Weddig.

Unsere kmPgeweMichen MusteMMen.

Taf. 45. Lade für die Glückwnnschadresse der Deut-
schen in St. Petersburg zur Krönung des Zaren. Ent-
worfen von Prof. Fr. Brochier, Nürnberg, ausgeführt von Hof-
silberarbeiter Ferd. Harrach 6: Sohn, München. — Die ganz in
Silber getriebene Lade (Größe 53/26 cm) ist bekrönt von den email-
lirten Wappen des Zarenpaares und der mit Edelsteinen besetzten
Zarenkrone; die Lade öffnet sich durch Perunterklappen des unteren
(Bogen-) Theiles und durch seitliches Aufschlagen der beiden senk-
rechten Flügel.

Taf. 46. Stuhlwerk in St. Jacques zu Antwerpen.

In Eichenholz ausgeführt (z658— ;s7o) von Artus Duellin d. I. —
Vergleiche hiermit den Text auf Seite ;02 links.

Taf. 47. Modellskizzen zu Glühlichtträgern für ein
Treppenhaus, von Franz Ringer (Nr. ; und 3) und Karl
Gross (Nr. 2), München. — Diese Modellskizzen sind wie oben-
stehende Zeichnung (Abb. ;sp Ergebnisse eines innerhalb des Münchener
Bildhauervereins veranstalteten Wettbewerbes; Näheres über diesen
Verein enthält die beiliegende Nummer der Kunstgew. Rundschau S. \ 26.

Taf. 48. Landelaber und Kapitelle. Skizzen von Archi-
tekt Theodor Fischer, München.

hierzu „Runstgewerbliche Rundschau" Nr. 12.

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Verantw. Red.: Prof. L. Gmelin. — Herausgegeben vom Bayer. Aunstgcivcrbe-Verein. — Druck und Verlag von 21. Gldenbourg, München.
 
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