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neu zu befruchten. Und dafür wird mit un-
barmherziger Hand fortschreitend fast Alles, was
wir in unferm eigenen Vaterlande an Besonder-
heiten noch besitzen, in der großen Wahlmühle
der unerbittlichen Wode geopfert; gerade jetzt
mehr wie je. Wohin sind unsere unendlich
mannigfaltigen Volkstrachten geschwunden? Der
unausstehliche, leider immer noch für die ge-
bildete Welt maaßgebende Dreß des Pariser
Ueberflüfsigen und der entsetzliche Aufputz jener
weiblichen Halbwelt führen in der Bäuerlichkeit
selbst des entferntesten spanischen Winkels wie
des kalten Norwegens einen leider nur zu erfolg-
reichen Aampf bis auf's Wester mit den alten
stolzen Gewändern der Dertlichkeit. Freilich, Gott
sei Dank, regt sich denn auch da und dort die
Reaction; Vereine und Anstalten zur Erhaltung
und Wiederbelebung lokaler Eigenthümlichkeiten
sind erstanden. Wir haben hier in der Nähe im Schaum-
burg-Lippischen so einen Winkel, wo das Volk noch in
der von den Vätern ererbten uralten Bückeburger Tracht
umherstolzirt, und jeder Einsichtige des kleinen Landes bis
zu den höchsten Stellen hinaus Alles thut, um das bis
heute Erhaltene nicht auch dahin schwinden zu lassen.
Aus dein Elsaß hört man neuerdings von einem erfolg-
reichen Streben in ähnlicher Richtung.
Ganz gleich steht es auch im übrigen und eigentlichen
Aunstgewerbe. Auch hier können wir die erfreuliche That-
fache feststellen, daß einzelne örtlich scharf charakterisirte
Theile unseres Vaterlandes, wie auch anderer europäischer
Länder, sich aus schon halb oder ganz vergessene Sonder-
art in Technik und Form besonnen haben und solche
Eigenthümlichkeiten zu bewahren oder wieder zu beleben
suchen. Und das ist im Gegensatz zu den Eingangs ge-
äußerten Schmerzen nicht nur erfreulich, — nein noth-
wendig. Denn die Befruchtung, die eine Aunst durch
Eigenthümlichkeiten empfängt, die nur und allein dem
Boden angehören, dem auch sie entsprießt, ist eine ganz
andere, vielfach werthvollere und berechtigtere, als die
aus entfernten Ländern herangeholte Ideen und Formen,
— Völkern und Ländern angehörig, deren Wesen und
Art nicht die unsrigen sind.
In den letzten Jahren hat auf verschiedenen kunst-
gewerblichen Ausstellungen in Deutschland so eine ganz
eigenartige und selbständige Erscheinung Aufsehen erregt.
Ohne anspruchsvoll oder gar aufdringlich zu sein, viel-
mehr ganz bescheiden und mit einem gut bürgerlichen, uni
nicht zu sagen bäuerlichen Anstrich hat unter den üblichen
ausgestellten Zimmereinrichtungen zum Mefteren ein „frie-
sisches" oder „nordfriesisches" Zimmer, jedesinal etwas
verschieden und doch immer wieder des gleichen Geistes,
die Augen auf sich gezogen. Ganz mit Eichenholz aus-
gekleidet, nicht hoch, in einfachster constructiver Art zu-
sammengebaut, zeigte das Ganze, ohne auf einen bestimm-
ten Stil geaicht zu sein, mannigfache Anklänge an frühe
Renaissance, Gothik, aber auch früheres und ganz frühes
Wittelalter, ja altnordische Formen; im Ganzen eine Art
der Auffassung und der Herstellung, die an die eines
Schiffbauers erinnerte; die Auszierung dabei meist von
jenem Schlag, wie sie der nordische Bauer von jeher an
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;-;o. Truhe mit Kerbschnittverzierungen, XV. Jahrhundert.
den langet! Winterabenden, wo die Arbeit ruhte, oder der
alte Watrose an Land zu schnitzeln pflegte: Aerbschnitt
uitd ähnliche einfache, nur Geduld erfordernde Arten der
Herstellung vorwiegend, nur hie und da eine Aunstsorm,
welche einer in der weiten bewegten Welt üblichen nach-
gebildet erschien. Es war ein ganzes Stück Geschichte
und Tultur eines alten und streng abgegrenzten deutschen
Stammes, welches sich hier wiederspiegelte, und man folgte
mit Freuden dem trefflichen Flensburger Tischler, der sich
in seiner Altvorderen Art tiefer und tiefer versenkte, der
sich und sein Volk in jenen biederen holzarbeiten mehr
uitd ntehr von Neuem erkannte und fand, heute ist nun
aus jener Werkstatt eine stattliche Fachschule geworden,
aus dem freilich schon lange hochgeachteten Aunsttischler
der Director der Schule, und was dort von Werken der
Väter gesammelt ist, der Schule und dem Nachwuchs als
Wegweiser und Wüster zu dienen, ist zu einer Wuseums-
Thür von einem gothischen Schrank.
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neu zu befruchten. Und dafür wird mit un-
barmherziger Hand fortschreitend fast Alles, was
wir in unferm eigenen Vaterlande an Besonder-
heiten noch besitzen, in der großen Wahlmühle
der unerbittlichen Wode geopfert; gerade jetzt
mehr wie je. Wohin sind unsere unendlich
mannigfaltigen Volkstrachten geschwunden? Der
unausstehliche, leider immer noch für die ge-
bildete Welt maaßgebende Dreß des Pariser
Ueberflüfsigen und der entsetzliche Aufputz jener
weiblichen Halbwelt führen in der Bäuerlichkeit
selbst des entferntesten spanischen Winkels wie
des kalten Norwegens einen leider nur zu erfolg-
reichen Aampf bis auf's Wester mit den alten
stolzen Gewändern der Dertlichkeit. Freilich, Gott
sei Dank, regt sich denn auch da und dort die
Reaction; Vereine und Anstalten zur Erhaltung
und Wiederbelebung lokaler Eigenthümlichkeiten
sind erstanden. Wir haben hier in der Nähe im Schaum-
burg-Lippischen so einen Winkel, wo das Volk noch in
der von den Vätern ererbten uralten Bückeburger Tracht
umherstolzirt, und jeder Einsichtige des kleinen Landes bis
zu den höchsten Stellen hinaus Alles thut, um das bis
heute Erhaltene nicht auch dahin schwinden zu lassen.
Aus dein Elsaß hört man neuerdings von einem erfolg-
reichen Streben in ähnlicher Richtung.
Ganz gleich steht es auch im übrigen und eigentlichen
Aunstgewerbe. Auch hier können wir die erfreuliche That-
fache feststellen, daß einzelne örtlich scharf charakterisirte
Theile unseres Vaterlandes, wie auch anderer europäischer
Länder, sich aus schon halb oder ganz vergessene Sonder-
art in Technik und Form besonnen haben und solche
Eigenthümlichkeiten zu bewahren oder wieder zu beleben
suchen. Und das ist im Gegensatz zu den Eingangs ge-
äußerten Schmerzen nicht nur erfreulich, — nein noth-
wendig. Denn die Befruchtung, die eine Aunst durch
Eigenthümlichkeiten empfängt, die nur und allein dem
Boden angehören, dem auch sie entsprießt, ist eine ganz
andere, vielfach werthvollere und berechtigtere, als die
aus entfernten Ländern herangeholte Ideen und Formen,
— Völkern und Ländern angehörig, deren Wesen und
Art nicht die unsrigen sind.
In den letzten Jahren hat auf verschiedenen kunst-
gewerblichen Ausstellungen in Deutschland so eine ganz
eigenartige und selbständige Erscheinung Aufsehen erregt.
Ohne anspruchsvoll oder gar aufdringlich zu sein, viel-
mehr ganz bescheiden und mit einem gut bürgerlichen, uni
nicht zu sagen bäuerlichen Anstrich hat unter den üblichen
ausgestellten Zimmereinrichtungen zum Mefteren ein „frie-
sisches" oder „nordfriesisches" Zimmer, jedesinal etwas
verschieden und doch immer wieder des gleichen Geistes,
die Augen auf sich gezogen. Ganz mit Eichenholz aus-
gekleidet, nicht hoch, in einfachster constructiver Art zu-
sammengebaut, zeigte das Ganze, ohne auf einen bestimm-
ten Stil geaicht zu sein, mannigfache Anklänge an frühe
Renaissance, Gothik, aber auch früheres und ganz frühes
Wittelalter, ja altnordische Formen; im Ganzen eine Art
der Auffassung und der Herstellung, die an die eines
Schiffbauers erinnerte; die Auszierung dabei meist von
jenem Schlag, wie sie der nordische Bauer von jeher an
X_
;-;o. Truhe mit Kerbschnittverzierungen, XV. Jahrhundert.
den langet! Winterabenden, wo die Arbeit ruhte, oder der
alte Watrose an Land zu schnitzeln pflegte: Aerbschnitt
uitd ähnliche einfache, nur Geduld erfordernde Arten der
Herstellung vorwiegend, nur hie und da eine Aunstsorm,
welche einer in der weiten bewegten Welt üblichen nach-
gebildet erschien. Es war ein ganzes Stück Geschichte
und Tultur eines alten und streng abgegrenzten deutschen
Stammes, welches sich hier wiederspiegelte, und man folgte
mit Freuden dem trefflichen Flensburger Tischler, der sich
in seiner Altvorderen Art tiefer und tiefer versenkte, der
sich und sein Volk in jenen biederen holzarbeiten mehr
uitd ntehr von Neuem erkannte und fand, heute ist nun
aus jener Werkstatt eine stattliche Fachschule geworden,
aus dem freilich schon lange hochgeachteten Aunsttischler
der Director der Schule, und was dort von Werken der
Väter gesammelt ist, der Schule und dem Nachwuchs als
Wegweiser und Wüster zu dienen, ist zu einer Wuseums-
Thür von einem gothischen Schrank.