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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1896

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Heft 12
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Gross, Karl: Eine kunstgewerbliche Zeit- und Streitfrage
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https://doi.org/10.11588/diglit.7909#0123

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H 58- Kleiner Schrank aus einem westfälischen Bauernhause.

Aber jetzt die Frage: Was ist nun modern zu nennen?
Da vorerst naturgemäß nur die Künstler die Träger der modernen
Kunstanschauung sind, müßte durch sie auch das Kunstgewerbe er-
neuert werden. Dem steht die Ansicht gegenüber, daß das Kunstge-
werbe nur aus der Werkstätte heraus gesund neu belebt werden könnte.
Diese Behauptung hat viel für sich, gilt aber für unsere heutigen Ver-
hältnisse nur halb.

Linst ging der Künstler aus der werkstätte hervor, die Kunst
stand im Dienste der decorativen Ausschmückung, heute ist sie sich
Selbstzweck, und der Künstler wird hiezu erzogen; er ist mit keiner
Technik vertraut, deren Kenntniß das kunstgewerbliche Entwerfen er-
fordert. Der kunstgewerbliche Arbeiter hingegen hat in unserem heu-
tigen Wirthschaftssystem selten die Zeit oder das verständniß, sich
neben dem Erwerb in das moderne Kunststudium zu vertiefen. Denn
dasselbe arbeitet noch nicht mit festgelegten, allgemein gültigen
Motiven, es erfordert ein ernstes, individuelles Suchen und Streben,
das nicht von Zeit und Geld abhängig fein darf. Leider kennen wir
heute nur wenige Künstler, die eigenhändig eine kunstgewerbliche
Technik ausüben; ihre decorative Thätigkeit liegt hauptsächlich auf
dem Gebiete der Flächendecoration und des Illustrationswesens, kfier
suchen sie neue Motive zur Geltung zu bringen und Sache des Kunst-
handwerkers wird es fein, dieselben seiner bestimmten Technik,
seinem bestimmten Zwecke nutzbar zu machen. Aber dafür ist
noch wenig verständniß vorhanden I

Alle Stilarten sind ihm geläufig; mit Akanthus, Delphinen,
Löwen- und Engelsköpfen, mit Renaissance- und Rococoschnörkeln ic.
weiß er die schwierigsten Aufgaben zu lösen und alles Mögliche und
Unmögliche damit zusammenzubanen. Mit diesen und anderen ver-

z. B. lesen, was Lübke über die Anfänge der Renaissance schreibt, so
können wir fraxpirende, ähnliche Vorgänge wie die heutigen wahr-
nehmen. Er schildert die Erfindungen und Entdeckungen jener Zeit,
den Durchbruch neuer Anschauungen aus idealem und realen: Gebiet
und deren Einstuß auf die Kunst, im Gefolge den anfänglichen Rea-
lismus und das kfervortreten der Künstler-Individualitäten :c.

Heute ist epochemachend die Alles beeinflussende sociale Bewegung.
Des Weiteren werden die althergebrachten religiösen Anschauungen
durch Freidenker und Atheisten erschüttert wie nie zuvor. Die Tiefe
des menschlichen Gemüths, dem die Religion entsprossen, leidet unter
der Vorherrschaft des Verstandes :c. Und unsere heutige Kunst ist
ein getreues Spiegelbild dieser Aeußerungen modernen Geistes.

Sociale Bilder, Arbeiter- und Armeleutdarstellungen haben wir
zur Genüge gekostet. Religiöse Themas werden in das wirkliche Leben
herabgezerrt u. s. f. Das Alles bedeutet für die Kunst nicht allein
eine neue Wahl ihrer Motive, sondern bedingt auch ein neuerliches,
selbständiges Naturstudium •— den Realismus. Auch heute ist der-
selbe eine charakteristische Begleiterscheinung einer neuen Kunstepoche,
wie das Hervortreten der Künstler-Individualitäten, und der oft er-
bitterte Streit zwischen alter und neuer Anschauung beweist nur, wie
tiefgehend diese Neuerung ist. — Da es nun undenkbar wäre, daß
das Kunstgewerbe, unabhängig von der herrschenden Kunstströmung
seinen antiquarischen Weg weitergehe, so stehen wir auch auf diesem
Gebiete vor einer durchgreifenden Stiländerung.

ZSJ. Himmelbett aus einem westfälischen Bauernhause.

flachten Motiven wird zumeist gedankenlos fortgearbeitet. Das ist kein
Lomponiren mehr, das ist nur ein Lombiniren wie mit Anker's Stein-
baukasten.

Doch gibt es auch solche Jünger der decorativen Kunst, die den
besten Willen hätten, alle geistlosen, zur Schablone gewordenen Motive
über Bord zu werfen — aber was dann? In ihrer Verzweiflung
fetzen sie sich hin und machen das absurdeste Zeug, meinend, das
müsse nun modern fein; und gerade diese sind es, die den Urtheils-
losen verwirren und die ganze Bewegung in Mißcredit bringen. Denn
alle jene Aeußerungen der modernen decorativen Kunst, die wirkliche
Bausteine zu einem neuen kunstgewerblichen Gebäude darstellen, wurzeln
einzig und allein im Verständniß der lebendigen Formensprache.

zso. Geschnitzter Küchenschrank ans einem westfälischen Bauernhause.
 
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