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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,2.1917

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Heft 9 (1. Februarheft 1917)
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Mahrholz, Werner: Von dem, was der neuen Baukunst am meisten not tut: zu Tessenows Buch "Hausbau und dergleichen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14296#0147

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Indein Tessenow nun zur Ausführung dieser grundlegenden Gedanken»
gänge schreitet, berichtigt er unsere Grundbegriffe von der Baukunst
ebenso unmerklich wie eindringlich. Die Voraussetzung jeder gesunden ge»
werblichen Arbeit ist ihm das Vorhandensein starker einfacher bürgerlicher
Düchtigkeit. Der bürgerliche Stand hat im Volksganzen ebenso wie die
gewerbliche Arbeit in der Baukunst, die Aufgabe, das einmal vorhandene
Hohe und Viedrige zu verbinden. Wo vollständiges gewerbliches Können,
das uns einfach-bürgerliche Tugend ist, mit hohen Ideen der Zeit, des
Volkes, der Gesamtheit oder eines einzelnen Standes zusammentrifft,
da entstehen Stile, Meisterleistungen im Technischen, wie im Künstleri«
schen. Diese einfache tüchtige Bürgerlichkeit, die nichts mit Spießbürgerei,
aber viel mit Kraft, Treue, Sittlichkeit zu tun hat, ist heute in ihrem Dasein
gefährdet. Die Proletarisierung der gewerblichen Arbeit auf der einen
Seite, das Dilettantentum in der Arbeit aller Art auf der andern Seite
sind Anzeichen dafür. Deshalb ist es notwendig, sich in allen Angelegen»
heiten auf das Eine, was nottut, zu besinnen, und diesem Bekenntnis ge-
mäß zu leben. Das gilt für die sittlichen Fragen so gut, wie für die reli»
giöse Not der Gegenwart, das gilt in der Politik wie in der Dichtung, in
der Sozialgesetzgebung wie in der Baukunst.

Der eigentliche Lebensnerv der theoretischen wie der praktischen Arbeit
Tessenows ist damit berührt: immer wieder fragt er als Baumeister nach
dem Einen, was der Baukunst nottut, und beantwortet damit zugleich die
polemische Frage nach dem, was ihr nicht nottut. Abgelehnt wird von
Tessenow das „Ligenartige", die „Buance", die Herrschaft des Details,
des Ornaments und des Schmückes, aber ebenso auch die Nacktheit des
reinen Nutzens, die Kälte der bloßen Technik. Gefordert wird dagegen
all das, was fich aus den allgemeinsten Forderungen, die wir als moderne
Menschen alle erheben, also: aus der Sauberkeit, Reinheit, Ordnung,
Wahrheit der Lebensführung als notwendig ergibt, und was in der Sphäre
des Künstlerischen heißt: Linfachheit, Betonung der Linie, Verwendung
der einfachsten Mittel mit größter Weisheit, Beschränkung aufs Wesent-
liche, Vermeidung des Zufälligen, Heraushebung der konstruktiven Formen.
An einer Reihe von sehr glücklichen Beispielen macht Tessenow diese grund-
sätzlichen Begriffe im Positiven und Negativen klar, so wenn er die tech-
nische Form als notwendig aber unliebenswürdig, weil verstandesmäßig
charakterisiert; so wenn er die Symmetrie <rls eine einfachste Gesetzmäßig-
keit alles Bauens bespricht und am Lnde von ihr sagt: „die Symmetrie
ist um so besser, je schwerer man ihre Achse findet" (S. 38), so wenn er die
Einfachheit der Form von der Armut unterscheidet u. dergl. mehr.
Bei all diesen Betrachtungen über die letzten Grundsätze des modernen
Bauens spricht ein Künstler mit gesundem Menschenverstand, ein reifer
Baumeister mit leidenschaftlicher Liebe zur Sachlichkeit, ein Hasser der
Phrase und Lüge, zu uns, und indem er unsere Aufmerksamkeit plaudernd
von Betrachtung zu Betrachtung leitet, entläßt er uns am Ende verändert,
anders und besser geworden, mit verschärftem Blick und gestärkter Ver«
nünftigkeit und Sittlichkeit aus seinem Banne.

And wenn uns der Theoretiker Tessenow nicht überzeugt hätte, so tut
es gewiß der Praktiker. Dem Buche sind (07 Photographien von aus-
geführten Bauten und Reproduktionen der Zeichnungen geplanter Bauten
beigegeben, in denen man das Grundsätzliche der Forderungen erfüllt sieht:
der seltene Fall, daß in unserer Zeit Ideen konkrete Gestalt annehmen,
 
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